Die Drehbuchautoren der öffentlich-rechtlichen Erfolgsreihe „Tatort“ scheinen zunehmend Gefallen an Knastkrimis zu finden: Anfang des Jahres 2014 sorgte der in einer Haftanstalt spielende Kölner „Tatort: Franziska“ mit einem klaustrophobischen Geiselnahme-Szenario für Aufsehen und wurde wegen der drastischen Gewaltdarstellungen sogar ins Spätprogramm verbannt. Die Kommissare aus Frankfurt ermittelten im starken „Tatort: Wer das Schweigen bricht“ 2013 ebenfalls hinter Gittern, und beim jüngsten Til-Schweiger-Fall im „Tatort: Kopfgeld“ zog das organisierte Verbrechen aus einer Justizvollzugsanstalt heraus die Fäden. Auch die Stuttgarter Ermittler kooperierten bei ihrem vorletzten Einsatz im „Tatort: Spiel auf Zeit“ bereits mit einem inhaftierten Schwerverbrecher und bei ihrem vierzehnten gemeinsamen Auftritt in Martin Eiglers „Tatort: Freigang“ verschlägt es die Hauptkommissare aus dem „Ländle“ nun erneut ins Gefängnis: Thorsten Lannert wird in eine JVA eingeschleust, während Sebastian Bootz die Ermittlungsarbeit außerhalb der Mauern übernimmt. Das Ergebnis ist ein durchaus spannend inszenierter, aber ziemlich einfallsarmer „Tatort“, der im direkten Vergleich zu den packenden Gefängniskrimis aus Frankfurt und Köln deutlich abfällt.
Ein besseres Alibi gibt es kaum: Holger Drake (Tambet Tuisk), dessen Spuren man an der Leiche seiner umtriebigen Ex-Frau Irina Meinert findet, saß zur Tatzeit in einem Gefängnis in Stuttgart-Zuffenhausen. Wie konnte seine DNA an den Tatort gelangen? Staatsanwältin Emilia Álvarez (Carolina Vera) erinnert sich an einen ähnlichen Mordfall, bei dem der Hauptverdächtige in derselben JVA einsaß. Daher schleust die Juristin einen ihrer besten Männer in den modernen Vorzeige-Knast ein: Hauptkommissar Thorsten Lannert (Richy Müller), der gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt ist und anders als sein Kollege Sebastian Bootz (Felix Klare) noch nicht mit den Wärtern oder Häftlingen in Kontakt gekommen ist, nimmt eine freie Stelle im Gefängnis an und begibt sich unter dem Namen Peter Seiler undercover auf Spurensuche. Schon bald wird dem Ermittler klar, dass Sicherheitschef Andreas Franke (Herbert Knaup), den hinter Gittern alle nur „King“ nennen, an der Spitze eines von Korruption und Gewalt geprägten Systems steht. Aber hat er auch mit dem Mord zu tun?
Nach Müllmogul „Papa“ (Roeland Wiesnekker) nun also Knastchef „King“: Drehte sich im eigenwilligen Bremer „Tatort: Alle meine Jungs“ zuletzt noch alles um den charismatischen Kopf einer Müllmann-Mafia, ist es im „Tatort: Freigang“ der Sicherheitschef einer JVA, mit dem die Auflösung der einleitend gestellten Täterfrage untrennbar verknüpft ist. Wieder einmal dient die Auftaktleiche hier nur als Aufhänger für einen weitaus komplexeren Fall: Antriebsfeder des Geschehens sind die krummen Dinger und Machtspielchen hinter den Gefängniszäunen, die Lannert bei seinem Undercover-Einsatz nach und nach aufdeckt. Beängstigende Drohkulissen oder erschütternde Folterszenarien, wie wir sie aus Gefängnisdramen wie „Die üblichen Verdächtigen“ oder „Murder in the first“ kennen, sucht man dabei allerdings vergebens: Die Drehbuchautoren Sönke Lars Neuwöhner und Martin Eigler erzählen die Geschichte im Schongang und reihen bloß die üblichen Versatzstücke des Genres aneinander. So muss Lannert bei seinen subtilen Nachforschungen immer wieder kleinere Rückschläge verkraften, während das Aufdecken seiner Tarnung durch den argwöhnischen Sicherheitschef Franke mit jeder Minute wahrscheinlicher wird, was den Zuschauer um die Sicherheit des Kommissars bangen lässt.
Im Zentrum der Knastintrigen steht der „King“ genannte Sicherheitschef, doch anders als dieser Ehrenname suggeriert bleibt der vielfach leinwanderprobte Herbert Knaup („Das kleine Gespenst“) bei seinem Auftritt als Kopf einer kriminellen Truppe überraschend blass. Von den übrigen Figuren sind es in diesem 913. „Tatort“ vor allem die Wärter – allen voran der labile Carsten Scheffler (Matthias Ziesing) und sein Schwiegervater Hasan Schultz (Hans-Heinrich Hardt), die hier mit Profil versehen werden. Die Häftlinge um den Hauptverdächtigen Holger Drake (Tambet Tuisk) bleiben austauschbare Marionetten in einem System, in das sie sich wohl oder übel einfügen müssen, wenn sie im Knast nicht ihr Leben riskieren wollen. Was passieren kann, wenn man aufmuckt, zeigt das Beispiel eines an Hautausschlag erkrankten Knastbruders, der die schlechte medizinische Versorgung moniert und schon bald mit einer blutigen Nase und einem zugeschwollenen Auge für seine unwillkommenen Störfeuer büßen muss.
Für ein wenig Abwechslung in dem ansonsten überraschungsarmen Kriminalfall sorgen ausgerechnet die Stuttgarter Kommissare, die bei ihrer Ermittlungsarbeit normalerweise selten über die Stränge schlagen: Die heimlichen Treffen, bei denen sich Lannert und Bootz regelmäßig über den aktuellen Stand der Nachforschungen austauschen, erinnern an den Hamburger Undercover-Cop Cenk Batu (Mehmet Kurtulus), der seinen Vorgesetzten Uwe Kohnau (Peter Jordan) bei seinen sechs „Tatort“-Auftritten an menschenleeren Hafenbecken, vorm Suppenregal im Supermarkt oder gar im Miniatur Wunderland in der Speicherstadt über den aktuellen Stand der Ermittlungen informierte. Lannert und Bootz treffen sich nun vorzugsweise im Zimmer eines Stuttgarter Bordells – da kommt es schon mal vor, dass Bootz („Scheiß Gestöhne hier!“) kaum sein eigenes Wort versteht und Lannert sich – rein dienstlich natürlich – mit einer blonden Edelhure vergnügen muss, weil der argwöhnische Bordell-Stammgast Franke sich bei der Prostituierten über die Liebhaberqualitäten seines neuen Angestellten informieren könnte. Dennoch: Hier gibt es nur wenige wirklich bemerkenswerte Szenen – ansonsten liefert der letzte „Tatort“ vor der Sommerpause 2014 reichlich Mittelmaß.
Fazit: Spurensuche hinter Gittern – Regisseur Martin Eigler kann mit seinem Stuttgarter „Tatort: Freigang“ trotz einiger guter Ansätze nicht ganz an die zuletzt überzeugenden Knastkrimis der ARD-Reihe anknüpfen.