Sarmatien. Schon das Wort hat etwas Lyrisches. Es klingt nach einem Land der Imagination, einem Ort der Sehnsucht. In der Antike war Sarmatien ein Reich zwischen Weichsel und Wolga, das sich von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer erstreckte. In den Jahrhunderten und Jahrtausenden, die seither vergangen sind, ist es immer weiter zerfallen und auseinandergerissen worden. Aber der Traum von diesem Land jenseits nationaler Grenzen ist geblieben, etwa in den Gedichten Johannes Bobrowskis, der dieses poetische Reich immer wieder beschworen hat, und in den Filmen Volker Koepps. Immer wieder hat Koepp das einstige Sarmatien bereist, manchmal wie in seinem frühen Kurzfilm „Grüße aus Sarmatien für den Dichter Johannes Bobrowski“ auf dessen Spuren, meist auf der Suche nach den Spuren der Geschichte und ihrem Erbe, das im östlichen Europa noch einmal schwerer wiegt. Mit der wunderbar nonchalanten Dokumentation „In Sarmatien“ wirft Koepp nun nicht nur einen weiteren Blick auf dieses Land der Träume und Hoffnungen wie der Trauer und Schmerzen. Er blickt zugleich auch zurück auf sein eigenes Werk.
Mehr noch als Volker Koepps andere Arbeiten ist „In Samartien“ eine filmische Reise. Nur folgt sie keiner klaren geographischen Linie. Es ist ein sprunghafter, assoziativer Trip, eine Fahrt mit vielen Abschweifungen und Umwegen, die ihn nach Litauen und in die Ukraine, nach Moldawien und nach Kaliningrad führt. Alles beginnt im Frühjahr an der Memel, wenn das Eis aus dem Norden, aus Russland, den Strom herunterfließt und den schon freien Fluss noch einmal zufrieren lässt. Eine Bäuerin aus der Region hatte Koepp einmal erzählt, dass es für diese seltsame Zeit zwischen Winter und Frühling, in der alles zum Stillstand kommt, weil das Eis zu dünn ist, bei den Einheimischen mit „Schaktarp“ sogar ein eigenes Wort gibt. Aber nicht nur an der Memel-Mündung im Frühjahr herrscht eine Art von Stillstand. Ganz Sarmatien scheint in einer Art Zwischenzeit festzustecken, zwischen einer wechselhaften und oft blutigen Vergangenheit und einer mehr als ungewissen Zukunft. Die Gegenwart, die sich in den Begegnungen und Gesprächen des Films abzeichnet, ist von Unsicherheit und Sorgen geprägt, von zerrissenen Familien und gesellschaftlichem Auf-der-Stelle-treten.
Die Nähe von Koepp und seinem Film zu Johannes Bobrowski und seinen sarmatischen Gedichten könnte kaum größer sein. Einige Zeilen aus einem von ihnen liest schließlich Rolf Hoppe: „Ach, es ist der helle / Glanz, das Sommergestirn, / fortgeschenkt, am Feuer / hockt der Märchenerzähler, / die nachtlang ihm lauschten, die Jungen / zogen davon.“ Die Jungen sind davon gezogen – davon zeugt auch der Film. In Moldawien reist der Regisseur durch Dörfer und Landstriche, in denen nur noch die Alten und die Kinder leben. Die Jungen sind davon gezogen, verstreut in Mittel- und Westeuropa, dort wo es Geld zu verdienen gibt. Auch die Jungen, die mit einem voll beladenen Pferdewagen von der Weinlese kommen, zieht es weg. Hier im Dorf gibt es keine Zukunft. Während sie von Armut und Landflucht sprechen, liegt ein Strahlen in ihren Gesichtern und Liebe in ihren Blicken, die über die Felder streifen.
Momente wie diese sind reine Poesie, licht und doch von einer ungeheuren Tiefe, klar und dabei zugleich voller Widersprüche. Volker Koepp versteht es wie kaum ein anderer Dokumentarfilmer einfach nur hinzusehen und hinzuhören. Er lässt den Menschen, die er trifft und manchmal auch begleitet, alle Zeit der Welt. Er hört sich ein in ihren Rhythmus. Und so nehmen er und sein Kameramann Thomas Plenert auch den Rhythmus und die Schwingungen der Landschaften in sich auf. Ihre Bilder, die so selbstverständlich scheinen, fast als seien sie mal eben nebenbei entstanden, bilden nicht nur Felder und Flüsse ab. Sie fangen eine Wirklichkeit aus Licht und Wind, aus Landschaft und Himmel ein, die weit über das hinausgeht, was mit dem Auge wahrzunehmen ist. Etwas Poetisches, fast schon Mystisches liegt in diesen Bildern. So kann sich Heimat anfühlen, so schön und auch so schmerzhaft. In Koepps Film geht es im Endeffekt immer wieder darum, was Heimat eigentlich ist und in solchen Momenten werden die Bilder des Films selbst zu einer Form von Heimat, denn in ihnen sind die Menschen und die Welt ganz bei sich.
Die Reise durch Sarmatien ist für Koepp immer auch eine Reise durch sein eigenes Werk. Überall trifft der Regisseur auf Menschen, die er schon einmal in einem seiner Filme porträtiert hat oder die an einem von ihnen mitgearbeitet haben wie die Übersetzerin Ana. Viele von ihnen haben inzwischen ihre Heimat verlassen oder leben zwischen den Welten, mal im Westen, mal im Osten. Eine ganz eigene, schon von Bobrowski beschworene Melancholie erfüllt diese Begegnungen und Gespräche. Dazu fließen kleine Szenen und Momente aus „Grüße aus Sarmatien“ und „Kalte Heimat“, aus „Herr Zwilling und Frau Zuckermann“ und „Dieses Jahr in Czernowitz“ in den neuen Film ein. Sie sind Teil der großen Historie und der privaten Erzählungen, die Koepp hier konsequent miteinander mischt, bis sie kaum mehr unterscheidbar sind. So wie sich die Nationen in dieser poetischen Vision von Sarmatien auflösen und ein Land durchscheint, in dem wie einst in Czernowitz die Nationalitäten und Religionen friedlich zusammenkommen, verwischen auch die Grenzen zwischen dem Persönlichen und dem Gesellschaftlichen.
Fazit: Volker Koepp fängt die Wirklichkeit in ihrer ganzen Fülle ein, also nicht nur in Form einer alltäglichen Realität, sondern als ewiges Nebeneinander von Wahrheit und Möglichkeit. So sind seine Impressionen aus einer zerrissenen und doch tief verbundenen Welt stärker als alles, was zwischen den Menschen steht.