Momente der Wirklichkeit einfangen. Dabei sein, wenn Dinge geschehen, die berühren oder bewegen. Vielleicht denen Stimme und Gesicht geben, die sonst selten gesehen und gehört werden. So oder ähnlich lassen sich wesentliche Zielstellungen des klassischen Dokumentarfilms definieren und viele Filmemacher sehen ihre vornehmste Aufgabe weiterhin darin, mit ihrer Kamera Zeugnis abzulegen vom Lauf der Dinge und vom Schicksal der Menschen. Dabei war die Antwort auf die Frage nach dem Wie der Inszenierung und der Natur der vermeintlich ungefilterten Bilder immer schon umstritten und nie eindeutig, aber in den heutigen Zeiten von Dokusoaps und Dokudramen, Scripted Reality und stark verbreiteter dokumentarischer Attitüde bei fiktionalen Erzählformen steckt das filmische Verhältnis zur Realität endgültig in der Dauerkrise. Während andere Filmemacher von Joshua Oppenheimer („The Act Of Killing“) bis Sarah Polley („Stories We Tell“) diesen Krisenzustand in ihren Werken mehr oder weniger explizit zum Thema machen, greift Tobias Müller in seinem Dokumentarfilm „Sauacker“, der den verkopften Untertitel „Zwischen zwei Generationen auf einem schwäbischen Hof“ trägt, so viele unterschiedliche und widersprüchliche Inszenierungselemente und -formen auf, ohne sie nachvollziehbar zu reflektieren, dass er die Glaubwürdigkeit der eigenen Erzählung sabotiert.
Seit 1725 bewirtschaften die schwäbischen Kienles einen Bauernhof, in den letzten Jahrzehnten mit immer schlechteren Resultaten. In zwei Monaten wird Philipp Kienle, der jüngste Sprössling der Familie, 30 Jahre alt. Bis dahin möchte er ein tragfähiges Konzept erarbeiten, mit dem er die Nachfolge seines Vaters Konrad antreten kann. Aber Geld für neue Maschinen ist nicht aufzutreiben, obwohl Philipp Tag und Nacht schuftet, nicht nur im Stall und auf dem Feld, sondern auch bei der AOK und im Stahlwerk. Während die Bank seinen Businessplan prüft, streitet er sich immer wieder mit seinem Vater, der seine Ideen ablehnt. Dann wird Philipp auch noch von seiner Freundin Manuela verlassen, mit der er in einem Bungalow auf dem Hof gelebt hat.
Zwei Monate bis zum Sieg oder zur Niederlage, zwei Monate bis der Nachwuchs sich durchsetzt - oder es bleibt alles beim Alten: Das hätte ein spannender Countdown werden können, der „Sauacker“ eine klare Struktur gegeben hätte. Doch für so eine klare Linie mag sich Regisseur und Autor Tobias Müller nicht entscheiden, ebenso wenig wie Philipp sich zu einer klaren Haltung gegenüber seinem Vater durchringen kann. Vielmehr lässt sich der Regisseur vom Prinzip der Assoziation leiten: „Sauacker“ ist unzweifelhaft erst am Schneidetisch entstanden: Wenn der Vater nach dem argumentativen Sieg über den Filius im dörflichen Musikverein das Jagdhorn an den Lippen hat, kommt klar zum Ausdruck: Der Senior gibt den Ton an. Solche zwar nicht subtilen, aber doch prägnanten Momente sind jedoch selten, meist überwiegt bei dieser Vorgehensweise die Irritation: Mal hat Philipp einen Backenbart, mal keinen, sein Tattoo mit der Aufschrift „1725 – jeder schmiedet sich sein Glück“ am Unterarm taucht auf und verschwindet wieder. Während Müller in seinen Bildern munter zwischen sengender Hitze und hohem Schnee hin- und herspringt und die Chronologie der Ereignisse häufig zugunsten wenig zwingender motivischer Verknüpfungen ignoriert, suggeriert die Darstellung der Beziehungs- und Familienverhältnisse eine kontinuierliche Entwicklung.
Wenn die Kienles direkt in die Kamera sprechen und ihre Kommentare abgegeben, ist der aufmerksame Zuschauer angesichts von Müllers willkürlich wirkender Erzählweise auf der Hut und hinterfragt die Natur und den Gehalt dieser Aussagen. Die Inszenierung hat gerade in ihrer Uneindeutigkeit den Beigeschmack des Manipulativen, der schon bei der am Anfang des Films stehenden Geburt eines Kalbes zu spüren ist: Zwei Mädchen auf Inline-Skates schauen da durch eine Maueröffnung zu. Aber tun sie das wirklich? Sind sie mit der gebärenden Kuh in einer Einstellung zu sehen? Und wollten sie die Geburt aus eigenem Antrieb sehen oder bekamen sie einen Wink vom Regisseur? Solche Fragen stellen sich spätestens dann ein, wenn man einige an Dokusoaps erinnernde Dialoge zwischen Philipp und Manuela verfolgt hat. Allzu künstlich wirken Philipps wiederholte Bemühungen und sein fortwährendes Scheitern. Wo er aber wirklich steht, was er wirklich will, das bleibt rätselhaft, auch weil Tobias Müller darauf verzichtet, irgendwelche Eckdaten zum allerdings ziemlich heruntergekommen wirkenden Hof zu geben. So bleibt der Informationsgehalt des Films gering und die Inszenierung verstellt den Blick auf das Wesentliche.
Fazit: Tobias Müllers Dokumentation „Sauacker“ über eine hart arbeitende Bauernfamilie fehlt die Bodenhaftung: Assoziativ-willkürliche Bildfolgen ersetzen dokumentarisches Beobachten, Inszenierung verhindert Wahrhaftigkeit. So rüttelt man weder auf noch weckt man Sympathie für diejenigen, die unter der Misere der Landwirtschaft leiden.