Lou Bloom ist der Travis Bickle des 21. Jahrhunderts, ein ultimativ-abgefuckter, aber auch befremdlich-charismatischer Antiheld. Im Gegensatz zu Robert De Niro, der in Martin Scorseses „Taxi Driver“ 1976 noch der Dekadenz und Verdorbenheit der Gesellschaft den Kampf ansagte, zieht Jake Gyllenhaal in „Nightcrawler – Jede Nacht hat ihren Preis“ nun allerdings kühl-kalkuliert seinen Nutzen aus den niederen Instinkten eines TV-Publikums, dem er pünktlich zum Morgenkaffee möglichst blutig-brutale Bilder der vergangenen Nacht serviert: vorzugsweise weiße Tote in wohlhabenden Gegenden, noch einen im Ghetto niedergeschossenen Schwarzen will eben niemand mehr sehen. Aber das Regiedebüt von Drehbuchautor Dan Gilroy („Das Bourne Vermächtnis“) ist nicht einfach nur eine boshaft-ätzende Mediensatire (nur auf das verkommene US-Frühstücksfernsehen einzudreschen, wäre auch ein wenig zu einfach), sondern zugleich auch ein grandios-effektiver Pulp-Thriller sowie ein einnehmend-verstörendes Psychogramm. Für Fans von elegant-abgründiger Genrekost wie „Drive“ oder „Sieben“ ist „Nightcrawler“ mit seinen trügerisch schwelgerischen Bildern des nächtlichen Los Angeles deshalb ein unbedingtes Muss!
Bisher hat sich Lou Bloom (Jake Gyllenhaal) mit Stahldiebstählen über Wasser gehalten, aber seit er einen Online-Wirtschaftskurs absolviert (und alle Business-Binsenweisheiten sklavisch auswendig lernt), ist er ganz heiß auf eine Karrierechance. Diese bietet sich ihm, als er eines Nachts zufällig ein Kamerateam dabei beobachtet, wie es eine nach einem Unfall halb aus ihrem Wagen hängende Frau beim langsamen Verrecken filmt. Am nächsten Morgen sieht Lou die Aufnahmen im Frühstücksfernsehen und damit ist der Entschluss gefasst: Er kauft sich in einem Pfandhaus eine einfache Handkamera und macht sich in der kommenden Nacht selbst auf die Jagd nach sensationell-schockierenden Bildern. Und auch wenn seine ersten Aufnahmen handwerklich noch arg zu wünschen übriglassen, wagt er sich ohne jede Empathie oder schlechtes Gewissen doch so nah an die Opfer heran, dass er in der bei ihrem Sender schwer unter Quotendruck stehenden Newsproduzentin Nina Romina (Rene Russo) trotzdem eine willige Abnehmerin findet…
Zu Beginn des Jahres hat Will Ferrell als Ron Burgundy bereits die Live-TV-Übertragung von (möglichst spektakulär endenden) Verfolgungsjagden erfunden – und so in „Anchorman – Die Legende kehrt zurück“ den unstillbaren Sensationshunger des modernen Rund-um-die-Uhr-Nachrichtenzyklus auf die Schippe genommen. In „Nightcrawler“ treibt Autor und Regisseur Gilroy diese Idee nun auf die Spitze: Sterbende und Tote sind in seinem Film nichts als News, Quote, eine simple Ware und damit bares Geld. Natürlich gibt es - von „Network“ bis „Series 7 – Bist du bereit?“ - bereits eine ganze Reihe von Vorbildern mit einer ähnlichen satirischen Stoßrichtung, aber so abgrundtief-garstig und doch nie platt-polemisch wie Gilroy hat noch kein Filmemacher seine Medienanklage formuliert. Wie die Nachrichtenmacher in „Nightcrawler“ ticken, erscheint absolut realistisch – und wie perfekt ein Soziopath wie Lou Bloom in dieses Geschäft hineinpasst (fast so, als ob die „Normalen“ hinter den Kulissen nur auf einen „Irren“ wie ihn gewartet hätten), ist nachhaltig erschreckend. Selbst die im Vergleich zur US-Konkurrenz deutlich gemäßigteren deutschen Nachrichtensendungen sieht man anschließend mit völlig anderen Augen.
Obwohl Gilroy auch vor extremen Wendungen nicht zurückschreckt, lässt er seinen Protagonisten nie zur bloßen Karikatur verkommen – und so offenbart „Nightcrawler“ seine Qualitäten eben nicht nur als satirischer Punch in die Magengrube, sondern auch als klassischer Thriller. Dabei zieht der Film seinen Reiz bei weitem nicht nur aus der Frage, wie weit Lou noch gehen wird, stattdessen hat Regieneuling Gilroy auch eine ganze Reihe herausragend inszenierter Spannungssequenzen (Kamera: Robert Elswit, Oscar für „There Will Be Blood“) zu bieten. Als erstes sticht da jene größtenteils aus Lous Egoperspektive gefilmte Sequenz heraus, in der er mit seiner Handkamera eine Villa inspiziert, aus der nach einigen gefallenen Schüssen gerade erst zwei schwerbewaffnete Gangster geflüchtet sind. Und das von Lou selbst heraufbeschworene Finale in einem Diner führt nicht nur zu einem befriedigend-zynischen Abschluss des Films, sondern Gilroy zieht mit seiner streng-präzisen Inszenierung auch die Spannungsschraube noch ein letztes Mal bis zum Bersten an.
Seitdem sich Jake Gyllenhaal nach „Prince of Persia“ aus dem Blockbuster-Geschäft verabschiedet hat, entwickelt er sich immer mehr zu einem zweiten Nicolas Cage: Bei jeder seiner Performances springt einem inzwischen der Wahnsinn regelrecht entgegen! Aber wo Cages Auftritte zunehmend zur Selbstparodie verkommen (von positiven Ausreißern wie zuletzt „Joe“ abgesehen), landet Gyllenhaal aktuell einen Volltreffer nach dem anderen: Er ragte in „Prisoners“ aus einem insgesamt starken Cast noch heraus, er trug das Psychopuzzle „Enemy“ mit einer Doppelrolle fast im Alleingang und dominiert nun auch „Nightcrawler“ nach Belieben. Dabei macht gerade Lous radikale Rationalität (der Irrsinn lauert in den Augen, seine Taten sind kühl kalkuliert) ihn zu einem so erschreckenden Soziopathen – selbst in Anbetracht von verblutenden Opfern rattert er gegenüber seinem schlechtbezahlten Assistenten Rick (Riz Ahmed) weiterhin seelenruhig seine auswendig gelernten Business-Floskeln herunter oder er erteilt seiner Produzentin ohne jede Empathie Karriereratschläge und erpresst sie gleichzeitig zum Sex. Letztlich lebt Lou damit lediglich seinen ganz persönlichen amerikanischen Karriere-Traum – und wenn er dabei das Leben aller um sich herum in einen Albtraum verwandelt, dann ist das der erfolgsgesellschaftlichen Logik nach allein die Schuld der anderen, weil sie ihren Traum eben nicht ebenso kompromisslos verfolgen wie dieser ultimative amerikanische (Anti-)Held!
Fazit: Bitterböse, sauspannend, grandios gespielt – eine meisterhaft-schallende Medienschelte!