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    Meine keine Familie
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Meine keine Familie
    Von Lars-Christian Daniels

    In ihrem Langfilmdebüt „Die Vaterlosen“, das im Panorama der Berlinale 2011 für Aufsehen sorgte, ließ die österreichische Filmemacherin Marie Kreutzer die Nachkommen einer Hippie-Kommune am Sterbebett des gemeinsamen Vaters zusammenkommen. Kommunenkind war Kreutzer selbst zwar keines, doch schuf die Regisseurin auch ohne persönliche Erfahrungswerte eine faszinierende Indie-Perle, deren fiktive Handlung eine bemerkenswerte Sogkraft entwickelte. Ihr Landsmann Paul-Julien Robert hingegen ist tatsächlich vaterlos in einer Kommune aufgewachsen – Grund genug für den Regisseur, sich in seiner Dokumentation „Meine keine Familie“ auf eine Reise in die eigene Vergangenheit zu begeben. Das Ergebnis überzeugt ebenfalls auf ganzer Linie: Robert setzt sich in seinem Erstlingswerk, das bei der Viennale 2012 als bester Dokumentarfilm ausgezeichnet wurde und auf vielen weiteren europäischen Filmfestivals zu sehen war, kritisch mit seiner Kindheit auseinander und blickt hinter die Kulissen der vermeintlich heilen Hippie-Welt, in der allen alles gehört und jeder frei seine Persönlichkeit entwickeln soll, am Ende aber vielleicht niemand wirklich zufrieden ist.

    Freies Ausleben der Sexualität, Kollektiveigentum und die radikale Auflösung der kleinfamiliären Strukturen: Das sind die Grundprinzipien der Friedrichshof-Gruppe, die Anfang der 70er Jahre vom Wiener Aktionskünstler Otto Mühl gegründet und erst 1991 im Zuge einer strafrechtlichen Verurteilung von Mühl wieder aufgelöst wurde. Im österreichischen Burgenland leben phasenweise bis zu 600 Menschen als „Aktionsanalytische Organisation (AAO)“ zusammen, teilen sich Raum und Nahrung und versuchen in hemmungslosen Selbstdarstellungen Schamgefühle zu überwinden und Tabus zu durchbrechen. Den Kindern, die wie Robert aufgrund der praktizierten freien Liebe ohne konkreten Vater aufwachsen müssen, kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Ihr Erzieher ist die Kommune, die Mutter die einzige dauerhafte Bezugsperson. Ein experimentelles Familienmodell, mit dem nicht jedes Kind glücklich ist...

    Eigentlich begann Paul-Julien Robert die Arbeit an „Meine keine Familie“, weil er das Schicksal seines juristischen Vaters klären wollte. Was er aber im umfangreichen Archiv des Friedrichshofs an Filmmaterial vorfand, ließ ihn zu einer tiefergehenden Fragestellung kommen: Kann eine Kommune wie die AAO einem Kind die Familie ersetzen? Aus heutiger Sicht scheint die Antwort einfach – führt man sich nur vor Augen, dass Kommunenführer Otto Mühl zu einer siebenjährigen Haftstrafe verurteilt wurde, weil sein anti-kleinfamiliäres Gesellschaftsexperiment zu Drogenmissbrauch und zum Beischlaf mit Unmündigen geführt hatte. Dennoch führt Robert den Zuschauer bewusst aufs Glatteis: Im ersten Drittel seiner Dokumentation, das man als Plädoyer für das Aufwachsen in einer Künstlerkommune fehlinterpretieren könnte, zeigt er glückliche Kinder beim kollektiven Geplantsche und barbusige Frauen, die strahlend zwei Säuglingen gleichzeitig die Brust geben. Auch seine eigene Mutter lässt er zunächst in Erinnerungen schwelgen, um sie wenig später mit einer ganz anderen Sicht der Dinge zu konfrontieren und ihr Zeit zur Reflexion einzuräumen.

    Robert verwebt die Interviews und Gespräche mit seiner Mutter und den ehemaligen Bewohnern der Künstler-Kommune gekonnt mit Zitaten aus dem schriftlich festgehaltenen „AA-Modell“ und dem bis dato nie öffentlich gezeigten Archivmaterial, das die grotesken Lebensverhältnisse in der Künstlerkommune schonungslos offenlegt und als unmenschliches Versuchsmodell entlarvt. Am verstörendsten ist hier die ungeschnittene Szene, in der ein kleiner Junge von Mühl unsanft ans Mikrofon gezwungen und zum Singen aufgefordert wird: Als er sich weigert und in Tränen ausbricht, kippt der Aktionskünstler dem schluchzenden Kind vor rund hundert Zuschauern eine Flasche Wasser über den Kopf und droht dem Jungen, ihn von nun an jeden Tag aufs Neue auf die Bühne zu holen. Was solche Erlebnisse in einem Kind auslösen können, mag man nur erahnen – Mühl ist dies jedoch gleich, weil er sein vermeintlich fortschrittliches Gesellschaftsmodell zur lebenden Kunst stilisiert und dabei gar nicht merkt, dass er seine Autorität und Vormachtstellung innerhalb der Gruppe für entwürdigende Experimente missbraucht. Auch wenn Robert selbst nicht direkt von solchen Bloßstellungen und der „Einführung in die freie Sexualität“ betroffen war: Wie sehr die Erlebnisse in der AAO das Wesen und die Sexualität eines Menschen prägen können, belegt das rührende Gespräch mit Ex-Kommunenbewohner Jean, den die Erfahrungen nachhaltig traumatisiert haben.

    Fazit: Mit „Meine keine Familie“ feiert Paul-Julien Robert ein bemerkenswertes Langfilm-Debüt, in dem er sich trotz der persönlichen Motivation objektiv und kritisch mit dem Gesellschaftsexperiment Kommune auseinandersetzt. Vorwürfe an seine Mutter, sich nie nach dem Wohlbefinden des eigenen Sohnes erkundigt zu haben, bleiben dabei unausgesprochen.

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