Mit mittlerweile fünfzehn Dienstjahren ist Hauptkommissar Till Ritter (Dominic Raacke) einer der dienstältesten „Tatort“-Ermittler. 1999 trat Raacke gemeinsam mit Ex-„RTL Samstag Nacht“-Star Stefan Jürgens die Nachfolge des späteren „Dschungelcamp“-Bewohners Winfried Glatzeder an. Seit diesem Personalwechsel steht der Berliner „Tatort“ vor allem mit Blick auf die teils desaströsen Glatzeder-Folgen wie kaum ein zweiter Vertreter der Erfolgsreihe für solide Krimi-Unterhaltung: Wirklich enttäuscht wurde in den vergangenen Jahren selten und mit der herausragenden Hommage „Hitchcock und Frau Wernicke“ 2010 sogar ein echtes Ausrufezeichen gesetzt. Nach 36 Einsätzen ist für Raacke, der seit 2001 von Boris Aljinovic als Hauptkommissar Felix Stark unterstützt wird, nun plötzlich Schluss: Der rbb gab im September 2013 – ausgerechnet nach der vom Publikum hochgelobten Folge „Gegen den Kopf“ – bekannt, dass Ritter und Stark durch ein neues Team abgelöst werden. „Wenn Schluss sein soll, dann richtig, die große Abschiedsnummer wird es nicht geben“, murrte der darüber wenig erfreute Raacke in einer Berliner Zeitung und stand für einen letzten geplanten Dreh kurzerhand nicht mehr zur Verfügung. Der Auftritt in Alexander Dierbachs damals bereits abgedrehtem „Tatort: Großer schwarzer Vogel“ ist daher sein letzter – und der Sonntagskrimi einer der schwächeren, in denen er in den vergangenen Jahren zu sehen war.
Der populäre Berliner Radiomoderator und Ex-Leistungsschwimmer Nico Lohmann (Florian Panzner) soll das Ziel eines Briefbombenanschlags werden: Ein Unbekannter platziert einen Umschlag vor der Tür seiner Wohnung. Doch die Bombe kostet nicht Lohmann oder seine schwangere Freundin Anne Kröber (Klara Manzel) das Leben, sondern ein unschuldiges Kind, das im Treppenhaus Ball spielt und den Zünder auslöst. Wer steckt hinter dem feigen Anschlag? Die Liste von Lohmanns Feinden ist lang: Von den nächtlichen Anrufern seiner Call-in-Show im Radio sind ihm bei weitem nicht alle wohlgesonnen. Die Hauptkommissare Till Ritter (Dominic Raacke) und Felix Stark (Boris Aljinovic) stoßen auf den gewalttätigen Heiner Piwek (Andreas Guenther), dessen Frau Petra ihn nach einem Gespräch mit Lohmann verließ. Aber ist er auch der Attentäter? Ritter und Stark befragen Lohmanns Ex-Freundin Henriette (Julia Koschitz) und finden heraus, dass der Ex-Schwimmer vor fünf Jahren in einem Autounfall verwickelt wurde. Obwohl er nur leichte Verletzungen davon trug und sich realistische Chancen auf eine Olympia-Teilnahme machen durfte, beendete er daraufhin seine Sportlerkarriere. Und Ulrich Kastner (Peter Schneider), der bei dem Crash seine Frau und Tochter verlor, ist fest davon überzeugt, dass seine Frau den Unfall nicht verursacht hat...
Ein Hauch von „Domian“ weht durch den 899. „Tatort“: Eine nächtliche Call-in-Show, ein geduldiger Radiomoderator mit offenem Ohr für die Sorgen seiner Mitmenschen und nicht zuletzt eine Psychologin, die die anonymen Anrufer nach dem Gespräch weiter berät: Die WDR-Sendung mit Kult-Talker Jürgen Domian stand offenbar Pate für das Drehbuch von Jochen Greve. Eine ähnliche Geschichte gab es im „Tatort“ schon einmal: 2007 gingen die Hauptkommissare Max Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Freddy Schenk (Dietmar Bär) im schwachen „Tatort: Nachtgeflüster“ in Domians Wahlheimat Köln höchstpersönlich auf Sendung und plauderten on air mit einem Geiselnehmer, während heimlich das SEK anrückte. Ein solch unrealistisches Szenario bleibt dem Fernsehpublikum in „Großer schwarzer Vogel“ erspart: Auch dieser Berliner „Tatort“ fällt wieder gewohnt bodenständig, zugleich aber auch ziemlich überraschungsarm aus, weil Greve voll auf die etablierten Krimikonventionen setzt. Schon bald offenbart sich, dass der Weg zur Auflösung nur über Lohmanns gescheiterte Schwimmer-Karriere, seinen ehrgeizigen Klischee-Trainervater Hans (Hans Uwe Bauer) und den tragischen Autounfall führt, aus dem sich auch der ungewöhnliche Krimititel erklärt.
Passend zu den in diesem „Tatort“ erstmalig thematisierten Schlafstörungen von Ritter, die der Kommissar vor Aufnahme des Falls im Radio mit Lohmann diskutiert hat, durchzieht „Großer schwarzer Vogel“ von Beginn an eine verträumte, fast melancholische Grundstimmung: Nach dem stark inszenierten Auftakt, in der der Basketball des kleinen Jungen in Zeitlupe die Treppenstufen herunter hüpft und die Briefbombe detonieren lässt, joggt Hauptkommissar Stark gedankenverloren zu verträumten Pop-Klängen durch die Hauptstadt, bis ihn sein langjähriger Kollege schließlich in den gemeinsamen Dienstwagen bittet. Wüsste man es nicht besser, könnte man fast meinen, die beiden wüssten in diesem Moment, dass sie zum letzten Mal gemeinsam auf Täterfang gehen. In der Folge brechen Drehbuchautor Greve und Regisseur und „Tatort“-Debütant Alexander Dierbach diese Atmosphäre jedoch mehrfach unbeholfen auf: Immer dann, wenn aus Melancholie Langeweile zu werden droht, muss mal wieder ein Verdächtiger vor den Kommissaren davon laufen – Verfolgungsjagden ziehen im „Tatort“ eben immer.
Wirklich spannend wird es dabei selten: Selbst als die schwangere Lohmann-Freundin Anne in der Nacht von einem unbekannten Einbrecher heimgesucht wird, will keine echte Gänsehautatmosphäre aufkommen. Dass „Großer schwarzer Vogel“ unter dem Strich enttäuscht, liegt aber auch an den schwächelnden Nebendarstellern: Florian Panzner („Der Preis“) und Julia Koschitz („Ruhm“), die 2012 im Bodensee-„Tatort: Schmuggler“ die Mörderin mimte, sind mit ihren soliden Leistungen noch der Lichtblick in einem ansonsten relativ schwach besetzten Krimi, in dem das schauspielerische Leistungsgefälle in den vielen emotional aufgeladenen Dialogen unübersehbar ist. Wenigstens Dominic Raacke („Staudamm“) gibt seinen charmanten Großstadtbullen Ritter gewohnt souverän und hält Wort: Sein letzter Auftritt im Berliner „Tatort“ ist tatsächlich keine „große Abschiedsnummer“, im Gegenteil – es ist überhaupt kein Abschied. Im „Tatort: Die Vorsehung“, dessen Ausstrahlung für Ende 2014 geplant ist, wird Boris Aljinovic als Hauptkommissar Stark dennoch zum ersten und letzten Mal allein auf Mördersuche gehen – dann fällt auch für ihn die letzte Klappe.
Fazit: Heimlich, still und leise verlässt Dominic Raacke nach fünfzehn Jahren den Berliner „Tatort“ – das passt zu einem melancholisch angehauchten, selten spannenden Krimi, der zu den weniger originellen aus der Hauptstadt zählt.