Ob Andreas Dresens „Halt auf freier Strecke“, Marc Rothemunds „Heute bin ich blond“ oder Marc Rensings „Die Frau, die sich traut“: Im deutschen Arthouse-Kino der jüngeren Vergangenheit widmeten sich gleich mehrere Filmemacher dem Thema Krebs und den Auswirkungen der oft tödlich endenden Krankheit auf das Leben der Protagonisten. Auch Regisseur Alexandre Powelz, der bisher durch seine Kurzfilme „Niemand liebt dich so wie ich“ und „Phantomschmerz“ auf sich aufmerksam machen konnte, erzählt in seinem Langfilmdebüt „Ohne dich“ die Geschichte einer krebskranken Frau. Doch sein Film unterscheidet sich schon rein strukturell von den anderen genannten Beiträgen: Bei „Ohne dich“ handelt es sich um einen waschechten Episodenfilm, bei dem drei verschiedene Handlungsfäden früh miteinander verknüpft werden und die Gefühlswelt der Protagonisten noch durch weitere Schicksalsschläge aus den Angeln gehoben wird. Das Ergebnis ist ein rührendes, aber nie rührseliges Drama, in dem Powelz die wenigen heiteren Momente gekonnt mit den tragischen in Einklang bringt und Hauptdarstellerin Katja Riemann den Kopf einer starken Besetzung bildet.
Die Hebamme Rosa (Katja Riemann) erhält von den Ärzten eine niederschmetternde Diagnose: Nachdem sie bereits vor einiger Zeit einen bösartigen Tumor entfernen ließ, hat der Krebs in ihrem Körper nun „gestreut“ und ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr aufzuhalten. Als Rosa ihrem langjährigen Partner Marcel (Charly Hübner) offenbart, dass sie den kräfteraubenden Kampf gegen die Krankheit aufgeben und lieber schnell sterben möchte, schockiert das den gewissenhaften Psychotherapeuten zutiefst. Doch die Nöte der Kellnerin Motte (Helen Woigk) holen die Hebamme zurück ins Leben: Die junge Erwachsene, die allein in einem Bauwagen haust, erwartet ungewollt ein Kind von ihrem besten Freund Neo (Arne Gottschling), der sich eigentlich mehr zu Männern hingezogen fühlt. Marcel verliert sich derweil in der neurotischen Obsession seiner Putzfrau Layla (Meral Perin), die einer Affäre zu ihrem ehemaligen Arbeitgeber Navid (Bijan Zamani) nachtrauert und alles dafür tun würde, wieder mit ihm zusammenzukommen. Sie ahnt nicht, mit wem Navid mittlerweile liiert ist…
Wenn bei den Dreharbeiten gleich mehrere Crew-Mitarbeiter abwechselnd das Set verlassen, um Abstand zur Filmhandlung zu gewinnen und sich für einen Moment zu sammeln, dann spricht das eindeutig für die Durchschlagskraft der Geschichte. Beim Dreh zu „Ohne dich“ ist genau das passiert, wie Katja Riemann („Die Apothekerin“) bei der Stuttgarter Premiere des Films verriet. Doch ist „Ohne dich“ kein klassisches Krebsdrama, in dem der verzweifelte Überlebenskampf einer erkrankten Person dokumentiert und dem Zuschauer damit die Kehle zugeschnürt wird: Der körperliche Verfallsprozess, den Hauptfigur Rosa durchmacht, wird zwar durch einige Szenen, in der der Hebamme plötzlich der Schmerz in den Unterleib fährt, angedeutet – im Mittelpunkt steht aber der emotionale Konflikt mit ihrer großen Liebe Marcel, der ihre Entscheidung zunächst nicht akzeptieren will. In diesen aufwühlenden Streitsequenzen wird Riemann deutlich mehr gefordert als zuletzt im Kassenknüller „Fack ju Göhte“, und vor allem bei den Weinkrämpfen und aggressiven Eruptionen ihrer Figur läuft sie zu großer Form auf. „Polizeiruf 110“-Kommissar Charly Hübner („Banklady“) schüttelt seinen weniger spektakulären Part unaufdringlich aus dem Ärmel und harmoniert vor allem in den leidenschaftlichen Liebes- und Turtelszenen prächtig mit seiner Leinwandpartnerin.
Alexandre Powelz, der mit Alexandra Umminger auch das Drehbuch zum Film schrieb, hat aber noch mehr zu erzählen: Den zeitlichen Rahmen der episodisch angelegten Geschichte bildet Mottes ungewollte Schwangerschaft, die mit einem Quickie im Kinderkarussell beginnt und vor der riesigen Baugrubenkulisse von Stuttgart 21 auf die Zielgerade einbiegt, als ihr mitten auf dem Bürgersteig die Fruchtblase platzt. Die Episoden mit Motte, deren eigenwillige Lippenstift-Verzierung ihrer Augenpartie sofort Erinnerungen an die legendäre Vollrausch-Tätowierung von „Stu“ Price (Ed Helms) in „Hangover 2“ erinnert, sind die humorvollsten des Films und lockern das Geschehen immer wieder gekonnt auf – zum Beispiel dann, wenn die kugelbäuchige Schwangere zum ersten Mal eine Umstandshose anprobiert und sich in der Umkleidekabine selten dämlich vorkommt. „Ich seh‘ halt immer scheiße aus mit dieser Melone“, resümiert Motte in einem von vielen scharfzüngigen Wortgefechten mit ihrer besten Freundin Mitra (Sarah Horvath, „Lollipop Monster“) und hat die Lacher des Publikums sofort sicher. Auf den weiteren Weg von Jungschauspielerin Helen Woigk („Tatort: Frühstück für immer“) darf man schon jetzt gespannt sein: Wie bereits in ihrer ersten Leinwand-Hauptrolle als abenteuerhungrige Gothic-Göre in André Erkaus „Das Leben ist nichts für Feiglinge“ gibt sie auch in „Ohne dich“ ihre perfektionierte Teenager-Trotz-Miene zum Besten und bringt die gegenüber ihrem Baby vollkommen gleichgültige Mutter authentisch auf die Leinwand.
Im Vergleich zu diesen beiden Handlungssträngen fallen die Episoden mit der trauernden Putzfrau Layla, die in die Wohnung ihres Verflossenen einbricht und dort Hinweise auf dessen neue Flamme sucht, ein wenig ab: Alle Handlungsteile sind für einen klassischen Episodenfilm überraschend eindeutig und schon zu einem frühen Zeitpunkt miteinander verknüpft, im Fall von Layla und der ominösen unbekannten Liebhaberin schießt Powelz aber etwas über sein Ziel hinaus. Anders als bei Rosa, Marcel und Motte stiehlt sich der Filmemacher hier zudem mit einem abrupten, offenen Ende aus der Affäre, so dass nach dem Abspann ein etwas unrunder Gesamteindruck bleibt. Dies ist jedoch der einzige größere Schwachpunkt eines stilsicher zwischen kraftvoll-dramatischen und lockerleicht-beschwingten Sequenzen wechselnden Dramas, in dem das sensible Geflecht der zwischenmenschlichen Beziehungen vom Schicksal erschüttert wird und die Protagonisten lernen müssen, mit ihren neuen Lebenssituationen umzugehen. Auch weil die Vorgeschichte der Figuren nur angerissen wird, wirkt der Film wie eine Sammlung präziser Momentaufnahmen: Wie es beispielsweise zur Trennung von Layla und Navid kam, oder warum Motte sich ausgerechnet in einem Bauwagen einquartiert hat, bleibt im Dunkeln. An Substanz fehlt es der kraftvollen Geschichte dadurch nicht.
Fazit: Alexandre Powelz feiert mit seinem humorvoll angehauchten und episodisch angelegten Krebs- und Beziehungsdrama „Ohne dich“ ein überzeugendes Langfilmdebüt.