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    Wild Tales - Jeder dreht mal durch!
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    Wild Tales - Jeder dreht mal durch!
    Von Carsten Baumgardt

    Der Wutbürger ist eigentlich ein Deutscher, vielleicht sogar ein Schwabe. Ein nicht korrekt postierter Gartenzwerg, ein aus dem Fenster heraus beobachteter Falschparker oder ein störendes Bauprojekt (generell eine feine Sache, aber bitte nicht vor der eigenen Haustür), können einen Spießer zur Weißglut treiben. Doch auch andernorts gibt es diese Spezies Mensch – allerdings meist unter anderen Vorzeichen. In Argentinien zum Beispiel, einem Land, das chronisch unter Chaos, Korruption und Staatswillkür leidet, staut sich so einiges an gerechtem Zorn an. Das kollektive Gefühl von Machtlosigkeit kulminiert in Damián Szifrons tiefschwarzer Farce „Wild Tales – Jeder dreht mal durch!“ in einer Eruption der Gewalt. Seine sechs nicht miteinander verbundenen Geschichten dürfen als galliger Kommentar zum Zustand der argentinischen Gesellschaft verstanden werden: ein außergewöhnlicher Film, in dem turbulente Komik, böse Pointen und klarsichtige Systemkritik in Einklang gebracht sind.

    In „Pasternak“ fangen Salgado (Dario Grandinetti) und Isabel (Maria Marull) in einem Flugzeug ein Gespräch an. Wobei sie schnell auf einen gemeinsamen Bekannten kommen: Pasternak. Bei diesem Namen werden auch die anderen Passagiere hellhörig. Sie stellen fest, dass alle Insassen des Fliegers schlecht auf den unausstehlichen und untalentierten Kerl zu sprechen sind…  In „Die Ratten“ hat die Serviererin Moza (Julietta Zylberberg) mehr als nur ein Hühnchen mit ihrem einzigen Gast zu rupfen. Der Zwangsvollstrecker Cuenca (Cesar Bordon) ruinierte einst ihre Eltern. Harte Maßnahmen stehen zur Debatte… In „Straße zur Hölle“ begeht der eitle Geschäftsmann Diego (Leonardo Sbaraglia) einen folgenschweren Fehler: Er macht sich in seiner Luxuskarosse beim Überholen über den langsam fahrenden Landmann Mario (Walter Donado) lustig, erleidet aber wenig später einen Reifenschaden… In „Bombita“ läuft der Tag eindeutig gegen den Sprengstoffexperten Simon (Ricardo Darin): Sein Auto wird zum wiederholten Male grundlos abgeschleppt, dadurch verpasst er den Geburtstag seiner Tochter, was in einem infernalischen Ehekrach endet… In „Die Rechnung“ kommt Millionärssöhnchen Santiago (Alain Daicz) in monumentale Schwierigkeiten, als er eine schwangere Frau überfährt und Fahrerflucht begeht. Sein Vater Mauricio (Oscar Martinez) engagiert den durchtriebenen Anwalt Abogado (Osmar Nunez), um die Sache mit viel Geld gerade zu biegen… In „Bis dass der Tod euch scheidet“ gerät eine Hochzeitsfeier kolossal aus dem Ruder. Als Romina (Erica Rivas) herausbekommt, dass ihr Mann Ariel (Diego Gentile) sie betrügt, wird sie zur Furie und holt zum Gegenschlag aus…

    Regisseur Damián Szifron ist ein Schelm: Der deutsche Untertitel „Jeder dreht einmal durch“ dient ihm als Motto und so lässt er jene Gewaltphantasien filmische Wirklichkeit werden, die wohl jeder schon einmal hatte, wenn er sich so richtig geärgert hat. Das wilde Panoptikum menschlicher und gesellschaftlicher Abgründe ist nichts für Zartbesaitete, denn mehr oder weniger alles endet in Mord und Totschlag – wobei es trotzdem jede Menge zu lachen gibt. Das gemeinsame Leitmotiv der sechs nicht miteinander verschachtelten und ansonsten vollständig voneinander unabhängigen Episoden: Man muss sich endlich gegen Ungerechtigkeiten wehren, koste es, was es wolle! Gegen Korruption, Bürokratie, Frust, Betrug und pure Depression. Der freche, freigeistig-wilde und radikale Stil des Films passt zu dieser unverblümten Botschaft und erinnert ein wenig an die Werke der spanischen Autorenfilmer-Legende Pedro Almodóvar („Volver“, „Sprich mit ihr“), die hier einer der Produzenten ist.

    Bei einer Kurzfilm-Kompilation liegt es in der Natur der Sache, dass die Qualität der einzelnen Beiträge schwankend ausfällt. Zum Auftakt („Pasternak“) sorgt Szifron gleich für einen Paukenschlag: eine Geschichte mit einer rustikalen Überraschungswendung und unverschämtem Witz. „Die Ratten“ ist danach die schwächste Nummer der Revue, weil hier außer Skurrilität kaum etwas geboten wird und die Emotionen auf der Strecke bleiben. Seine fiese Ader lebt der Regisseur mit der grotesken „Straße zur Hölle“ aus, bei der er in Sachen Brutalität und Rücksichtslosigkeit keine Grenzen kennt. Man weiß nicht wirklich, wer das größere Arschloch von den beiden hier aufeinanderprallenden Kontrahenten ist, aber was sich aus ihrem tödlichen Duell entwickelt, ist höchst einfallsreich. Das gilt auch für „Bombita“, der argentinischen Version eines Spießbürgeraufstands. Im Gegensatz zu den unausstehlichen Protagonisten der vorhergehenden Episode besitzt der Titelheld hier sämtliche Sympathien des Publikums – auch beim explosiven Schlussgag.

    Die komplexeste Handlung hat „Die Rechnung“ aufzuweisen. Das Lachen bleibt einem angesichts des Todes einer Schwangeren zwar im Halse stecken, aber mit welcher Finesse und Schlitzohrigkeit sich die Beteiligten aus der Bredouille befreien wollen, bereitet Vergnügen. Diese als Lehrstück über das argentinische Schichtensystem angelegte Geschichte ist clever, straff und pointiert inszeniert, aber nicht der Höhepunkt des Films, denn das Beste hebt sich Szifron für seinen furiosen Schlussakkord auf: In „Biss dass der Tod euch scheidet“ regiert der blanke Exzess. Das ist schmerzhaft - physisch wie emotional – aber vor allem urkomisch und es besticht durch einen erstaunlichen Einfallsreichtum. Der Regisseur wendet in allen Episoden eine ebenso einfache wie wirkungsvolle Methode an: Er beginnt mit einer realistischen Ausgangssituation, die er danach systematisch eskalieren lässt – der Overkill mündet in den totalen Kontrollverlust, der Zuschauer wird zum staunenden Gaffer und hat dabei diebischen Spaß. Im Kern ist der in den besten Momenten subversive „Wild Tales“ aber todernst und böse, denn hier wird nach dem Motto „Das musste mal gesagt werden“ offene Kritik an den argentinischen Zuständen geübt, im Großen wie im Kleinen.

    Fazit: Die gesellschaftskritische Komödien-Farce „Wild Tales“ ist eine rasante, hysterisch-makabre Spaß-Granate, die ebenso furios beginnt wie sie endet. Ein Hit aus Argentinien mit einem gnadenlosen Punch!

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