Mit der kessen Conny Mey (Nina Kunzendorf) debütierte 2011 eine „Tatort"-Kommissarin, die den weiblichen, bis dato moralisch stets untadeligen Ermittlertyp der öffentlich-rechtlichen Krimireihe ein Stück weit revolutionierte. Anfangs dank eigenwilliger Outfits und frecher Dialogzeilen gezielt auf ihre weiblichen Reize und ihre erfrischende Unbekümmertheit reduziert, wackelte der Hintern der prolligen Kommissarin in knallengen weißen Jeans über den Präsidiumsflur, dass die Kanone im Holster nur so schlackerte. Bei ihrem zweiten Einsatz in „Der Tote im Nachtzug" überzeugte Mey den Kollegen Thomsen (Benno Fürmann) sogar mit Oralsex davon, Informationen preiszugeben – ein mittelschwerer „Tatort"-Skandal. Für die mutige Tussi-Figur, die in den Folgemonaten auch durch trockene One-Liner und köstliche Frotzeleien mit ihrem muffeligen Kollegen Frank Steier (Joachim Król) überzeugte, ist nun schon wieder Schluss: Kunzendorf sieht ihre Figur zu Ende erzählt, konzentriert sich fortan auf andere Projekte und feiert im von Grimme-Preisträger Edward Berger inszenierten „Wer das Schweigen bricht" einen gelungenen, wenn auch leisen Abschied.
In einem Jugendgefängnis wird der 19-jährige Mustafa Zeydan (Atheer Adel) tot in seiner Zelle aufgefunden. Ein Bild des Grauens bieten vor allem die blutigen Füße des Opfers: Zeydan wurden in einer schmerzhaften Folterprozedur die Zehennägel entfernt. Die Hauptkommissare Frank Steier (Joachim Król) und Conny Mey (Nina Kunzendorf), die sich hinter dem Rücken ihres Kollegen als Ausbilderin an einer Kieler Polizeischule beworben hat, können den Mord zwar rekonstruieren – doch wie ist der Täter in die Zelle gekommen und unerkannt wieder verschwunden? Das Überwachungsvideo des Zellentraktes hilft nicht weiter, denn ausgerechnet die Minuten, in denen Zeydan nächtlichen Besuch erhielt, fehlen. Hinweise erhoffen sich die Ermittler, die hinter den Gefängnismauern auf eine Mauer des Schweigens treffen, von dem ebenfalls gefolterten Gefangenen Erhan Karabay (Tamer Arslan). Doch Karabay will nicht derjenige sein, der das Schweigen bricht...
Der Frankfurter „Tatort" basiert einmal mehr auf einem realen Fall des Kriminalkommissars und Analytikers Axel Petermann – und auch „Wer das Schweigen bricht" erweist sich als authentisch und absolut sehenswert. Erneut ist der Deutsche-Fernsehpreis-Gewinner Lars Kraume („Guten Morgen, Herr Grothe"), der auch das Skript zu den ersten beiden Folgen mit Steier und Mey beisteuerte, für das Drehbuch verantwortlich und erzählt die Geschichte seines ungleichen Ermittlerduos schnörkellos zu Ende. Den Kriminalfall, der mit dem hermetisch abgeriegelten Jugendgefängnis in einem spannenden Mikrokosmos angesiedelt ist, bringt Kraume souverän mit dem sich anbahnenden Abschied der taffen Ermittlerin in Einklang: Sieht es zunächst danach aus, als würde der vielbeschäftigte Steier dank einiger klassischer „Lass uns später darüber reden!"-Momente erst kurz vorm Abspann von den Abwanderungsgedanken seiner Kollegin erfahren, weiht ihn Mey nach einer knappen Krimistunde schließlich doch in ihre Pläne ein.
Wie nicht anders zu erwarten, ist der emotional verkrüppelte Kommissar mit der Situation überfordert – und flüchtet sich in Aggressionen, die eindrucksvoller Beleg dessen sind, was bereits die „Tatort"-Folgen der Frankfurter Vorgänger Charlotte Sänger (Andrea Sawatzki) und Fritz Dellwo (Jörg Schüttauf) auszeichnete. Trotz aller Kollegialität ist die Chemie zwischen den ungleichen Kommissaren geprägt von Emotionen, unausgesprochenen Empfindungen und Verletzlichkeit. Steier brüllt diesmal häufiger Zeugen an als bei seinen bisherigen vier Einsätzen zusammen. Sexbombe Mey hingegen nimmt mal wieder kein Blatt vor den Mund („Würde mir mal'n anderes Hemd anziehen, das wird am zweiten Tag nicht frischer!") und merkt dabei gar nicht, dass Menschenfeind Steier auch eine verletzliche Seite hat. Trotz dieser intensiven Charakterstudie, die der langjährige TV-Regisseur Edward Berger in der letzten Einstellung ohne falsche Kompromisse abrundet, bleibt genügend Zeit für die knifflige Tätersuche im Jugendknast, die einige Überraschungen bereit hält und neben Motiven aus beklemmenden Gefängnisdramen wie „Murder in the First" auch das berühmte Hakenkreuz-Tattoo aus Tony Kayes oscarnominierten „American History X" aufgreift.
Mit dem achtfach tatorterprobten Jürgen Rißmann („Ein Tick anders") und Sylvester Groth, der 2013 bereits im Bodensee-„Tatort" „Die schöne Mona ist tot" den Mörder mimte und auch in „Schwarzer Afghane" zum Kreis der Verdächtigen gehörte, zählen zwei bekannte TV-Gesichter zum durch die Bank starken Cast – im „Tatort" normalerweise ein sicheres Indiz dafür, dass es sich bei einem der beiden um den Mörder handelt. Autor Kraume bricht das klassische Whodunit-Konstrukt aber durch eine überraschende Schlusswendung auf, so dass „Wer das Schweigen bricht" in einer flotten Verfolgungsjagd durch Mainhattan und einem bleihaltigen Showdown mit Geiselnahme gipfelt. Hier wird es zum ersten Mal so richtig spannend: Der 870. „Tatort" ist sonst einer der ruhigeren, der sich Zeit für seine Charaktere nimmt und schmerzhaft deutlich macht, dass mit der herrlich direkten Conny Mey eine der bemerkenswertesten Figuren der jüngeren „Tatort"-Geschichte den Dienst quittiert.
Fazit: Nina Kunzendorf feiert in „Wer das Schweigen bricht" einen würdigen „Tatort"-Abschied – und mit ihrer Hauptkommissarin Conny Mey geht eine Ermittlerin der erfrischend anderen Sorte. Für Joachim Król geht es hingegen weiter: Im nächsten Fall „Der Eskimo" bekommt es der kauzige Alkoholiker Frank Steier erst einmal mit einer neuen, jungen Kollegin (gespielt von Alwara Höfels) zu tun, bevor ihm ab der übernächsten Folge mit Margarita Broich („Anleitung zum Unglücklichsein") wieder eine Partnerin fest zur Seite gestellt wird.