Der inzwischen 62-jährige Liam Neeson („The Grey“) hat erst vor kurzem verkündet, dass er nur noch in den nächsten zwei Jahren Actionfilme drehen will. Aber während wir diese Entscheidung in Anbetracht des enttäuschenden „96 Hours – Taken 3“ zunächst freudig-erleichtert zur Kenntnis genommen haben, würden wir es nach „Run All Night“ nun doch begrüßen, wenn der irische Haudegen noch ein paar Jährchen dranhängt. Der stylische Gangsterfilm ist nach dem Paranoia-Thriller „Unknown Identity“ und der Hitchcock-Reminiszenz „Non-Stop“ nämlich nicht nur Neesons dritter, sondern auch sein bisher stärkster Film, den er gemeinsam mit dem spanischen Regisseur Jaume Collet-Serra gedreht hat. Dass „Run All Night“ dabei trotz altbekannter Story eine überraschende Intensität entwickelt, hat neben Neesons raubeinigem Charisma vor allem zwei Gründe: Zum einen ist die gesamte Handlung auf eine einzige Nacht in New York verdichtet und der großartige Ed Harris („Die Truman Show“) verkörpert zum anderen beeindruckend einen menschelnden Mafiapaten.
Früher wurde er von Rivalen und Cops noch ehrfürchtig „Totengräber“ genannt, aber inzwischen ist der abgewrackte Mafia-Killer Jimmy Conlon (Liam Neeson) eher eine Lachnummer. Volltrunken blamiert er sich als Weihnachtsmann auf der Feier seines besten Freundes und Bosses Shawn Maguire (Ed Harris). Jimmys Loyalität zu Shawn scheint indes keine Grenzen zu kennen, vor 30 Jahren hat er für seinen Job sogar seine Familie verlassen. Aber als sein entfremdeter Sohn Mike (Joel Kinnaman) durch Zufall einen Mord beobachtet und so auf der Abschussliste der Mafia landet, muss der gealterte Jimmy seine Prioritäten neu überdenken. Denn nach einem ersten blutigen Vermittlungsversuch ist schnell klar, dass Shawn nicht ruhen wird, bis Mike unter der Erde ist – und um das sicherzustellen, heuert der Mafiapate zusätzlich zu seinen eigenen Männern auch noch den Auftragskiller Andrew Price (Common) an…
Ein Moment mit Jimmy Conlon und Shawn Maguire in einem Restaurant weckt unweigerlich Erinnerungen an die legendäre Café-Szene aus „Heat“ – und selbst wenn das erste Leinwandtreffen von Al Pacino und Robert de Niro unerreicht bleibt, erweist sich die deutlich ausführlichere Konfrontation von Liam Neeson und Ed Harris doch als Prunkstück von „Run All Night“: Ihre Freundschaft ist von einem solch ehrlichen gegenseitigen Respekt geprägt, dass ihre nach den Regeln des Mafialebens unabwendbare Jagd aufeinander etwas Tieftragisches bekommt. Wenn die beiden sich im nächtlichen Finale zwischen stillstehenden Güterzügen ganz allein gegenüberstehen, gibt es dann auch keinen krachenden Showdown wie den zwischen Vin Diesel und Jason Statham in „Fast and Furious 7“ – stattdessen erhält das Tötenmüssen in der bewusst ruhigen Sequenz eine geradezu philosophische Note. Der zweite zentrale Konflikt kann da nicht ganz mithalten: Jimmy will unbedingt verhindern, dass Mike in dieser Nacht so wie er zum Mörder wird und nietet deshalb selbst umso mehr Widersacher um – das ist intensiv gespielt und sorgt für zusätzliche Spannung, aber davon abgesehen verläuft der Abwesender-Vater-und-langsam-verzeihender-Sohn-Plot arg zuverlässig in den gewohnten Genrebahnen.
Es gibt Google-Maps-artige Überblendungen zwischen den allesamt in New York gelegenen Schauplätzen, die die Kompaktheit der Geschehnisse unterstreichen, aber sonst verzichtet „Orphan“-Regisseur Jaume Collet-Serra auf jegliche inszenatorische Sperenzchen. Stattdessen serviert er einen ebenso schnörkel- wie kompromisslosen Action-Thriller mit einer deutlichen Konzentration auf die Figuren. Nur an einer Stelle erlaubt sich Collet-Serra ein völlig abgehobenes Over-the-Top-Element – und wir nehmen es ihm nicht übel, denn wir hatten damit eine Menge Spaß: Erst im Februar rührte der Rapper Common mit seiner Performance seines oscarprämierten Songs „Glory“ (aus „Selma“) Hunderte Millionen Zuschauer zu Tränen – und in seiner anschließenden Dankesrede ebenso wie im FILMSTARTS-Interview erschien er wie der netteste Mensch. In „Run All Night“ ist er allerdings wunderbar gegen den Strich besetzt und brilliert als tödlich effizienter Killer, der in der Tradition von Javier Bardems Anton Chigurh aus „No Country For Old Men“ scheinbar völlig emotionslos agiert. Der geschickt integrierte extravagante Auftritt steht in auffällig-wirkungsvollem Kontrast zur hier porträtierten Mafiawelt, in der jeder jeden Fliegenschiss sofort persönlich nimmt.
Fazit: Rau-düsterer Action-Thriller, der seine Intensität vor allem dem starken (Zusammen-)Spiel von Liam Neeson und Ed Harris verdankt.