In den vergangenen Jahren wurden Niko von Glasows Filme zunehmend selbstreflexiv: In der mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Dokumentation „NoBody’s Perfect“ und in dem faszinierende Making-Of eines Bühnenstück „Alles wird gut“ standen Menschen mit Behinderungen im Mittelpunkt. Der Contergan-geschädigte von Glasow machte sich dabei stets selbst zum Protagonisten und reflektiert dadurch die Möglichkeiten und Grenzen des Dokumentarischen. In seinem jüngsten Film „Mein Weg nach Olympia“, für den der Regisseur behinderte Sportler vor und während der Paralympics in London 2012 begleitete, funktioniert das besonders gut: Von Glasows Überrumpelungstaktik führen zu intensiven Momenten, während Wettkampfbegeisterung, Siegesrausch und Interesse am einzelnen Athleten stets in perfekter Balance bleiben.
Zu den Athleten im Mittelpunkt von „Mein Weg nach Olympia“ gehört zum Beispiel Bogenschütze Matt Stutzman, der sein Sportgerät mit den Beinen bedient. Der Boccia-Spieler Greg Polychronidis, der an einer Muskeldystrophie leidet und im Rollstuhl sitzt, wirft seine Kugeln dagegen mit einem komplizierten Gebilde aus Rampe und Drähten ab. Dazu kommen die einbeinige Schwimmerin Christiane Reppe, das Sitzvolleyball-Team aus Ruanda und Aida Husic Dahlen, eine nach Norwegen adoptierte Tischtennisspielerin aus Bosnien mit einem verkümmerten Arm. Sie alle arbeiten auf ihr großes Ziel hin: die Paralympics 2012 in London. Von Glasow hingegen ist eher der Meinung: „Sport sucks“. Und so macht er sich auf eine Entdeckungsreise in die sehr unterschiedlichen Lebensumstände der Sportler. Er begleitet Waffenfan Matt auf den Schützenplatz, wo der mit seinen Zehen sogar Gewehre abfeuert. Er entdeckt einen hochsensiblen, wachen Geist im gelähmten Körper von Greg und er probiert sich im Fingerhakeln mit den oberkörpergestählten Sitzvolleyballern, die zum ersten Mal überhaupt ein Team aus ihrem Land zu den Paralympics senden.
Manche Dokumentarfilmer (wie zum Beispiel Sung-Hyung Cho in „11 Freundinnen“) verlieren mit dem Start eines Großereignisses schlagartig das Interesse an vielem, was sie den Protagonisten zuvor mühsam entlockt hatten: den persönlichen Hintergrund, die Motivation, die Bedeutung des Sports, den Lebensstil, den Alltag. Bei Behindertensportlern, denen schon „Gold“ in diesem Jahr ein filmisches Denkmal setzte, sind diese Elemente vielleicht sogar von noch höherem Interesse – und von Glasow hat gut daran getan sowohl von den Athleten, als auch aus ihrem sozialen und kulturellen Umfeld zu erzählen. Dabei geht er fraglos forscher zur Sache, als es ein Nichtbehinderter könnte. Die Aussagen, die er den Sportlern mit seiner Art entlockt, lassen einen dabei manchmal schaudern: „Es war Gottes Wille, dass ich auf eine Mine trete und ein Bein verliere“, sagt ein Sportler aus Ruanda etwa einmal. Doch dieser Satz erzählt trotz seiner nach westlichem Verständnis problematischen Schicksalsergebenheit viel von der leidvollen Vergangenheit und den Traditionen der Menschen in dem ostafrikanischen Land.
Andererseits: Ist das Beharren darauf, Behinderte seien als Menschen viel interessanter denn als Sportler, nicht auch schon ein Stück Diskriminierung? Von Glasow ist sich der Gefahr, die von diesem Ansatz ausgeht, bewusst und inszeniert etwa die Auftritte von Aida Dahlen an der Tischtennisplatte mit beinahe schon satirisch übersteigertem Pathos, mit vollem Einsatz von Zeitlupe und getragenen, hymnischen Klängen. Am Ende aber, dem „Mein Weg nach Olympia“ auch den Titel verdankt, geht der Regisseur, längst zum Sportfan konvertiert, mit Greg zum Bocciawerfen ins antike Olympia-Stadion, was dem Filmemacher eigentlich streng verboten ist. Doch als ein Wachmann kommt, geht der Contergan-geschädigte von Glasow mit seinen verkürzten Armen auf ihn zu: „We are just watching. Look at us: He can’t. I can’t.“ „Die mit den kurzen Armen“, an diese und andere Selbstverständlichkeiten erinnert uns der Film immer wieder, sind nicht unbedingt die besseren Menschen.
Fazit: Niko von Glasow begegnet in „Mein Weg nach Olympia“ seinen Protagonisten mit entwaffnender Offenheit, ohne je respektlos zu werden. Mit dieser Methode zeichnet er erstaunlich vielschichtige Porträts von Behindertensportlern aus allen Winkeln der Erde – und steckt schließlich den Zuschauer mit genau derselben Begeisterung an, die er als bekennender Nichtsportler auch erst entwickeln musste.