Historische Stoffe begleiten das Kino schon seit seinen Anfängen. Die Standards hat einst in den 1910er Jahren David Wark Griffith mit den beiden Stummfilmklassikern „Die Geburt einer Nation“ und „Intoleranz“ gesetzt. Seither haben sich natürlich die technischen Möglichkeiten verändert. Heute, gut 100 Jahre später, ist es weitaus einfacher, vergangene Zeiten wieder zum Leben zu erwecken. Was früher mühevoll rekonstruiert werden musste, kann nun digital erschaffen werden. Doch dieser Fortschritt hat letztlich nur Griffiths Ansatz und Methode verfestigt. Die meisten historischen Filmerzählungen kreisen alleine um ihr Sujet. Die Frage, wie sich Geschichte im Film überhaupt darstellen lässt, blenden sie aus, ebenso wie eine andere Frage. Gibt es jenseits melodramatischer Rekonstruktionen noch andere Wege, Vergangenes in Bildern neu zu formen? „Natürlich“, lautet die im Grunde offensichtliche Antwort, die nun der Film- und Theaterschauspieler, Romancier und Kolumnist Josef Bierbichler mit seiner zweiten Regiearbeit gibt. „Zwei Herren im Anzug“ basiert auf Bierbichlers eigenem Roman „Mittelreich“, in dem er die Chronik einer oberbayrischen Bauern- und Wirtsfamilie auffächert. Für den Film hat er den barocken Roman auf zwei Figuren und ihre extrem divergierenden Perspektiven fokussiert. Zugleich eröffnet ihm das Medium Film aber auch noch eine weitere, eine ganz andere Dimension. „Zwei Herren im Anzug“ ist nicht nur eine Reflexion über die verfluchte deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert. Bierbichler verbeugt sich mit diesem expressiven Heimatfilm zugleich vor der deutschen Filmgeschichte.
Ein Gasthof an einem oberbayrischen See im Jahr 1984. Hier hat gerade der Leichenschmaus für Theres (Martina Gedeck), die verstorbene Frau des Wirtes Pankraz (Josef Bierbichler), stattgefunden. Die letzten Gäste brechen auf, bis schließlich nur der verbitterte, an der Gegenwart wie an der Vergangenheit leidende Witwer und sein zorniger Sohn Semi (Simon Donatz) zurückbleiben. Die beiden haben sich nie verstanden. Für Semi war der Vater nur der Mann, der ihn immer von sich weggestoßen hat. Doch nun ist Schweigen keine Option mehr. Die Vermittlerin zwischen ihnen ist tot, und sie müssen sich erinnern und miteinander reden. Während sie mehr und mehr Alkohol trinken, kommen sie ihren verdrängten Erinnerungen und ihren traumatischen Erfahrungen immer näher. Was verschwiegen und vergessen werden musste, drängt zurück an die Oberfläche. So entsteht aus Pankraz’ und Semis Erzählungen, die Rechtfertigungen und Anklagen sind, ein sieben Jahrzehnte umspannendes Porträt einer oberbayrischen Familie…
Wie die Erinnerungen, in die Pankraz und Semi abtauchen, ist auch Josef Bierbichlers Film voller Lücken und Brüche. Schlaglichtartig beleuchtet Bierbichler einzelne Momente und Ereignisse, etwa den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und später dann ein Faschingsfest in den frühen 1950er Jahren. Diese einzelnen Szenen haben zudem noch jeweils ihre ganz eigene Ästhetik und ihren eigenen Ton. So greifen die Schwarzweißbilder aus der Zeit während des Ersten Weltkriegs wie auch aus den Jahren danach ausdrücklich Konventionen des Historien-Kinos auf. Fast konventionell erzählt Bierbichler vom Seewirt und seinen beiden Söhnen, Toni (Florian Karlheim), der in den Krieg zieht und versehrt an Körper und Geist aus den Schützengräben zurückkehrt, und dem deutlich jüngeren Pankraz.
Erst als sich die Ereignisse in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren nicht nur in Deutschland, sondern auch in der Familie des Seewirts überschlagen, überhitzen sich die Bilder. Wüst expressionischste Ausbrüche und Anflüge von wildem Wagner-Kitsch spiegeln Tonis Wahn und Pankraz’ Hoffnungen. Wenn sich der junge Pankraz (auch Simon Donatz), ein angehender Opernsänger, als Lohengrin sieht, wechselt der Film vom Schwarzweiß des Kinos jener Jahre zu regelrecht grellen Farben, die auf Wagner-Inszenierungen und -Klischees eben dieser Zeit verweisen. Das Gift des Nationalismus und des Antisemitismus, der für Toni zur fixen Idee geworden ist, hat die Welt des Seewirts längst vergiftet. Heimat bedeutet in Bierbichlers Vision nicht Sicherheit und auch nicht Geborgenheit. Heimat ist Gift und Fessel. Pankraz will ausbrechen und darf es nicht. Er muss nach Tonis endgültigem Zusammenbruch den Hof und die Wirtschaft übernehmen. Tonis Wahnsinn bricht sich in einer schier unglaublichen Szene, die Christoph Schlingensief sicher geliebt hätte, Bahn. In seinem Hass auf alle Juden stürmt er in eine Kapelle und schießt während der Andacht auf den Heiland am Kreuz. Schließlich war Jesus auch nur ein Jude.
Das Wilde und Kompromisslose ist Bierbichlers eigentliche Obsession. Während er von Menschen erzählt, die ihre Heimat und ihre Herkunft, ihre Erinnerungen und ihre Verletzungen regelrecht erdrücken, schwelgt er selbst in Bildern, die keinerlei Konventionen und Begrenzungen anerkennen. Der Faschingsball, auf dem Catrin Striebeck einen unvergesslichen, Fassbinder-würdigen Auftritt als weiblicher Adolf Hitler hinlegt, gipfelt schließlich in einer grandiosen Unwetter-Sequenz. Begleitet von Wagners „Fliegendem Holländer“ steht Bierbichlers Pankraz auf einem Steg am See und verflucht die Heimat, die er nie abschütteln konnte.
Durch diese hemmungslos überhöhte Szene, in der sich Poesie und Melodramatik gegenseitig in immer dramatischere Höhen schaukeln, geistern gleich zwei der eigenwilligsten und größten Filmemacher des deutschen Kinos. Der provokante und letztlich doch ganz unschuldige Gestus dieses wagnerianischen Nietzsche-Moments ist Schlingensief pur. Ihre schwarzromantische, von Todessehnsucht erfüllte Künstlichkeit, die etwas theatralisch Erhabenes hat, verweist über diesen Umweg zugleich auf Veit Harlan („Jud Süß“) und dessen große Agfacolor-Melodramen. Wie schon Schlingensief arbeitet sich auch Bierbichler an Harlans verfemter Ästhetik ab und findet dabei zu der überwältigenden Authentizität des Künstlichen, von der Oskar Roehler mit „Jud Süß – Film ohne Gewissen“ vergeblich geträumt hat.
Deutschland im 20 Jahrhundert, das ist Veit Harlan und Christoph Schlingensief, Heiner Müller und natürlich Herbert Achternbusch. Harlans „Opfergang“ führt in Schlingensiefs „deutsches Kettensägenmassaker“, Müllers „Germania. Tod in Berlin“ spiegelt sich in Achternbuschs „Heilt Hitler“, und das alles läuft in „Zwei Herren im Anzug“ zusammen. Die eigenwillige Sprachgewalt von „Mittelreich“ verwandelt sich im Film in barocke Bildgewalt. Jede Szene, beinahe jede Einstellung, brennt sich ein. Pankraz’ entschuldigenden Geschichten, die schließlich doch zu der schrecklichen Wahrheit der Schuld führen, stehen die verzweifelten Auslöschungsvisionen des Sohns gegenüber. „Ich war nie ein Nazi. Doch kein Nazi war ich nie“, verkündet Pankraz einmal Semi und fordert so Verstehen ein. Doch Verstehen heißt eben nicht Verzeihen, und dazu kann sich niemand in Bierbichlers Bayern durchringen. Die Söhne stehen den Vätern auf ewig unversöhnt gegenüber. Auch das ist eine Wahrheit der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Fazit: Mit seiner überbordenden Verfilmung von Motiven aus seinem Roman „Mittelreich“ fängt Josef Bierbichler die Essenz des 20. Jahrhunderts so kongenial ein wie zuvor nur wenige deutsche Filmemacher. In Bildern, die sich nicht selbst kleinmachen und den Kitsch umarmen, weil in ihm immer auch Wahrheit steckt, erschafft er ein Familienporträt, das drastisch und poetisch ist. „Im Kino gewesen, geweint“, hat Frank Kafka einmal notiert. Dies ließe sich angesichts von „Zwei Herren im Anzug“ so variieren: Im Kino gewesen, berauscht und erleuchtet.