Einem Frauenmörder wird auf Disney+ das Handwerk gelegt
Von Sidney ScheringTrue Crime erlebt zwar seit einigen Jahren einen nicht enden wollenden Hype, ist an sich aber natürlich ein alter Hut. Schon lange, bevor in Podcasts erstmals zwischen Matratzenwerbung und Smalltalk über reale Verbrechen spekuliert wurde, blickten Menschen kritisch auf (fehlgeschlagene) Ermittlungsarbeiten zurück: Zahlreiche Verbrechensserien wurden so allein aufgrund engagierter Zeitungsjournalist*innen genauer untersucht. Ein Beispiel dafür ist die Suche nach dem Boston Strangler, der in den 1960er-Jahren die USA in Angst und Schrecken versetzte.
Spätestens durch ein reißerisch vermarktetes Enthüllungsbuch und den Film „Der Frauenmörder von Boston“, in dem Publikumsliebling Tony Curtis gegen sein Image anspielt, wurde der Fall weltberühmt. Wenig beachtet blieben bislang allerdings die Journalistinnen, die überhaupt erst dafür gesorgt haben, dass die Polizei einer Reihe brutaler Frauenmorde tatsächlich nachging. Mit seinem für Disney+ produzierten Thriller-Drama „Boston Strangler“ macht Regisseur und Autor Matt Ruskin nun aber – ähnlich wie in Klassikern wie „Die Unbestechlichen“ oder „Spotlight“ – genau diese journalistische Leistung zum zentralen Thema.
Loretta McLaughlin (Keira Knightley) will unbedingt beweisen, dass sie mehr drauf hat als immer nur Lifestyle-Artikel.
Der Osten der USA in den 1960er Jahren: Die hochengagierte Journalistin Loretta McLaughlin (Keira Knightley) reibt ihrem Chefredakteur Jack Maclaine (Chris Cooper) jede einzelne Spitzennachricht unter die Nase, die die Konkurrenz zuerst hatte. Dass sie trotzdem im Lifestyle-Ressort festsitzt, wo sie Artikel über Haushaltsgeräte schreibt, bringt sie an die Decke. Umso verwunderter ist sie, als sie Reporterin Jean Cole (Carrie Coon) kennenlernt, die entgegen des vorherrschenden Sexismus Enthüllungsartikel schreiben darf.
Als eine Mordserie Boston heimsucht, akzeptiert Loretta kein Nein mehr und besteht darauf, das Thema aufzugreifen. Zähneknirschend stimmt ihr Chef zu, stellt Loretta aber Jean zur Seite, obwohl sich die Investigativ-Anfängerin eigentlich allein beweisen möchte...
Das mühselige Auseinanderklamüsern von Fakten, Vermutungen, heißen Fährten und bislang ignorierten Theorien ist das Brot-und-Butter-Geschäft der anhaltenden True-Crime-Welle – und ebenso unerlässlich bei Lorettas und Jeans Vorgehen. Doch die ständig Zigaretten qualmenden Journalistinnen informieren nicht wie so mancher moderne Podcast über jeden getätigten und ausgelassenen Schritt im Fall des Boston Stranglers, um ihr Zeitungspublikum zu unterhalten – geschweige denn, um aus der Tätersuche eine Seifenoper zu machen. Sie betrachten es stattdessen als ihre moralische Verpflichtung, die trödelnde Polizei durch Präsenz des Themas in den Schlagzeilen unter Druck zu setzen.
Obwohl sich die Hauptfiguren hinsichtlich ihrer Aufgabe einig sind, kommt es zunächst zu Differenzen. Loretta möchte lieber alleine arbeiten, um ihren Wert für die Redaktion zu unterstreichen – muss aber einsehen, dass vier Augen und zwei Paar Hände effizienter arbeiten. Jean dagegen spielt, sobald ihre Artikel für Furore sorgen, willig das Promotion-Spiel mit und posiert zwecks Publikumsbindung für Fotos. Loretta lässt dies wiederum nur mit einem verständnislosen Schnauben über sich ergehen, wenn sie förmlich vor die Linse gezerrt werden muss.
Jean Cole (Carrie Coon) wirft ihre ganze Erfahrung als Investigativ-Reporterin die Waagschale.
„The Infiltrator“-Regisseur Matt Ruskin skizziert ausgehend von diesen Meinungsverschiedenheiten allerdings keine stereotype Frauenfeindschaft am Arbeitsplatz: Die von Carrie Coon als routinierte Profi-Reporterin gespielte Jean bekommt den Raum, mit kerniger Abgeklärtheit ihre Argumente zu präsentieren. Loretta taut unterdessen sukzessive auf, bis aus der Einzelkämpferin eine eingespielte Teamplayerin wird. Nicht nur am Schreibtisch finden die Frauen zusammen – nach und nach ziehen sie gemeinsame Besuche einer vollgequalmten Bar dem Feierabend mit ihren Familie vor.
Ohne große Worte machen Coon („The Nest“) und Knightley („Silent Night“) die entstehende Freundschaft zwischen den Journalistinnen greifbar. Zugleich macht Ruskin die aufkommenden Risse in Lorettas Familie effektiv verständlich: Die Wortwechsel zwischen Loretta und ihrem anfangs unterstützenden, nach und nach genervten Ehemann schrammen zwar ab und zu haarscharf am Klischee vorbei. Doch wann immer ein überdramatisierter Bruch aufzukommen droht, erdet Ruskins unterkühlte Inszenierung den Familienclinch rechtzeitig.
Ruskins Inszenierung ist generell nüchtern, ganz im Gegensatz zu seinen regelmäßig zu Hochprozentigem greifenden Figuren: Der Filmemacher legt den Schwerpunkt auf die Mühseligkeit, mit der Loretta und Jean jene Arbeiten erledigen, zu der sich der schwerfällige Polizeiapparat einfach nicht bewegen lässt. Suspense entsteht weitestgehend aus dem Wissen, dass die Untätigkeit und Überforderung der Polizei Frauenleben kosten. Visuell unterstreichen Ruskin und „Ozark“-Kameramann Ben Kutchins dieses Gefühl, indem sie in der giftgrün-whiskeybraun-trübblauen Farbwelt ihres Films viel auf Unschärfen setzen: Nur höchst selten gestatten sie dem Publikum einen klaren Blick auf das hier geschilderte Boston. Somit tappen wir ähnlich im Dunkeln wie diejenigen, die nach der Identität des Boston Strangler suchen – und Ruskin kann durch diesen atmosphärischen Kniff zugleich kaschieren, dass die Schauplätze seines Thriller-Dramas (womöglich auch aus Budgetgründen) oft wie leergefegt sind.
Aber schlussendlich ist es ohnehin Knightleys Performance, auf der ein Großteil dieses Films ruht: Sie vereint Lorettas Neugier, beruflichen Ehrgeiz und ihren Frust über Sexismus am Arbeitsplatz sowie die Gleichgültigkeit der Polizei zu einem charakterstarken Ganzen. Dazu trägt auch bei, wie nahtlos Knightley Lorettas Stimmfarbe wechseln lässt, abhängig davon, in welcher Situation sie sich befindet: Wenn die Journalistin zielstrebig in eine Kneipe spaziert, um mittels weniger Fragen die Bestätigung ihrer Theorie aus einem Polizisten zu quetschen, knarzt sie, betont ihre Worte zackiger. In anderen Situationen spricht sie weicher und zugänglicher, etwa, wenn sie selbst noch nicht weiß, nach welchen Informationen sie sucht.
Chefredakteur Jack Maclaine (Chris Cooper) ist zunächst skeptisch, ob Loretta wirklich die richtige Frau für den Job ist.
Lorettas Fähigkeit, sich an die verschiedensten Lagen anzupassen, präsentiert sich unausgesprochen auch als These, weshalb sie trotz mangelnder Investigativ-Erfahrung so erfolgreich arbeitet. Trotzdem ist ihr kein Spaziergang vergönnt, schließlich muss sie schon bald nicht nur den Zorn des Mörders, sondern auch den des Staatsapparats fürchten, wenn sie der Polizei unnachgiebig Feuer unter dem Hintern macht. „Boston Strangler“ ist dabei zwar ein Loblied auf engagierte Pressearbeit, aber zugleich auch eine Mahnung, welche Folgen Berichte über laufende Ermittlungen mitunter haben können:
Im letzten Drittel zeigt sich nämlich, dass die Fehler bei der Suche nach dem Täter nicht nur an der regelrechten Bockigkeit der Polizei lagen, sondern auch deshalb zustande kamen, weil die Bevölkerung Bostons von den Artikeln inspiriert möglichst zügige Antworten verlangte (egal wie sorgsam sie untersucht wurden). Wenn schon mit gebührender Vorsicht und unter Einhaltung von Berufsstandards arbeitende Journalist*innen derartige Folgen ihrer Arbeit nicht vollauf einschätzen können, was bedeutet das dann erst für reichweitenstarke True-Crime-Podcasts, deren sich als Hobby-Detektiv*innen betätigenden Hosts (wild) herumspekulieren?
Fazit: „Boston Strangler“ erzählt in stimmig-giftigen Bildern von engagierten Journalistinnen, die gegen Sexismus und Gleichgültigkeit ankämpfen, um die Bevölkerung über eine Mordserie aufzuklären. Eine starke Keira Knightley und der Unwillen, einfache Antworten zu liefern, heben das exklusiv auf Disney+ erscheinende Thriller-Drama trotz mancher Allgemeinplätze über den Genreschnitt hinaus.