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    Höhere Gewalt
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,0
    solide
    Höhere Gewalt
    Von Thomas Vorwerk

    Dass ein Film in seinem Herkunftsland als offizieller Kandidat für den Oscar als „Bester nicht-englischsprachiger Film“ ausgewählt wird, zählt schon zu den höheren Weihen, die man als Regisseur erringen kann. Diese „Nominierung für die Nominierung“ (aus den weltweiten Ländervorschlägen, zu denen Deutschland 2014 Dominik Grafs „Die geliebten Schwestern“ beigesteuert hat, werden ja in Hollywood nochmal fünf ausgewählt) ist gerade in einer traditionsreichen Filmnation wie Schweden eine Auszeichnung für sich. Und zumindest gute Außenseiterchancen auf die Top 5 besitzt Ruben Östlund mit seinem packenden Ehedrama „Höhere Gewalt“ allemal. Der Regisseur scheut sich nicht, mit gewagten Aussagen über geschlechtstypisches Rollenverhalten anzuecken und wurde für sein provokantes, nachdenklich stimmendes Werk in Cannes mit dem „Preis der Jury“ in der Nebenreihe „Un certain regard“ ausgezeichnet.

    Eine junge schwedische Familie verbringt einige Tage beim Skiurlaub in einem mondänen Hotelkomplex mitten in den französischen Alpen. Beim Mittagessen auf einer Dachterrasse entwickelt sich eine kontrollierte Lawinensprengung zur plötzlichen Gefahr. Während Mutter Ebba (Lisa Loven Konsgsli) sich um die verschreckten Kinder Vera und Harry kümmert (gespielt von Clara Wettergren, 11, und ihrem Bruder Vincent, 8), bringt sich Vater Tomas (Johannes Bah Kuhnke) nur panisch selbst in Sicherheit. An dieser unerwartet egoistischen Reaktion und Tomas' Weigerung, zu seinem instinktiven Fehlverhalten zu stehen, droht die Ehe zu zerbrechen. Ein anderes Touristenpaar wird ebenfalls in die Krise verwickelt…

    Nach einem ohne besondere Vorkommnisse verlaufenden „ersten Skitag“ ist die Szene mit der Lawine der Dreh- und Angelpunkt des Films, und der versierte Regisseur demonstriert hier, wie mit cleverem Einsatz der technischen Mittel (vom Bühnenbild bis zur Greenscreen) eine ungemein realistische Wirkung erzielt werden kann. Diese eine spektakuläre Sequenz ist der Katalysator für das Folgende und  Östlund, der schon in seinem vorigen Film „Play“ akribisch das menschliche Verhalten in Extremsituationen sezierte, erzählt nun, wie die Mutter durch die Reaktion des Vaters verunsichert wird und wie der seinen unsozial wirkenden Überlebensinstinkt schlichtweg leugnet, ehe er durch das unnachgiebige „Nachbohren“ der Mutter in eine tiefe Krise geworfen wird.

    Durch den routinemäßigen Tagesablauf mit starken Momenten wie dem gemeinschaftlichen Zähneputzen, aber ebenso durch auch mal ins Peinliche abdriftende Gespräche mit Ferienbekanntschaften wird das psychologische Pulverfass an einer langen Lunte entzündet. Das Verhalten der Kinder, die besonders energisch auf die teils unausgesprochenen Konflikte reagieren, verstärkt die Sogwirkung des Films, der zudem durch die Wiederholung eines dramatischen Musikthemas (aus  Vivaldis „Vier Jahreszeiten“) vorangetrieben wird - der Spannungsaufbau ist tadellos. Die verschneite Location mit den leeren Hotelfluren, die durch Zwischentitel akzentuierte Chronologie, der Einsatz klassischer Musik, Helikopterkameras über einsamen Bergstraßen und ein handfester Ehestreit mit seelischen Untiefen - es mag auf den ersten Blick absurd wirken, aber „Höhere Gewalt“ könnte als Verschnitt zweier Filme von Stanley Kubrick konzipiert sein: „Shining“ trifft „Eyes Wide Shut“.

    Es gehört durchaus ähnlich wie bei Kubrick zu den Qualitäten des Regisseurs Ruben Östlund, dass man als Zuschauer nie sicher ist, wie weit er es treiben wird. Kommt es zur physischen Gewalt, droht gar eine zweite Katastrophe? Oder ist bei dieser Familie, deren Gefüge wie eine Porzellanvase einen plötzlichen Sprung aufweist, noch etwas zu retten? Doch diese Stärke kann auch zur Schwäche des Films werden, denn nach dem meisterhaften Aufbau des Konflikts werden die Spannungen für den Zuschauer zunehmend unerträglich, die Schauspieler werden bis an den Rand ihrer Möglichkeiten (und darüber hinaus) gefordert, und irgendwann ist auch der Fortlauf der Geschichte längst nicht mehr rundherum überzeugend.

    Wie schon beim Vorgänger „Play“, in dem es um jugendliche Kriminelle geht, die fast durchgängig einer erkennbaren Minderheit angehörten, sorgt auch in „Höhere Gewalt“ eine sehr einseitige Rollenzuweisung für Irritationen: Hier versteifen sich die beiden Pärchen zu parallel ablaufendenden Verhaltensweisen, die sehr eindeutig als geschlechtsspezifisch gekennzeichnet werden. Typisch weiblich steht hier gegen typisch männlich – gerechtfertigt wird diese verengte Sichtweise mit fadenscheinigen wissenschaftlichen Untersuchungen. Aber sind wirklich alle Männer „Verpisser“ mit Selbstzweifeln und alle Frauen unnachgiebige Verhörspezialisten mit ausgereiftem Mutterinstinkt? Die Filmfiguren (und damit in diesem Fall letztlich auch Östlund) propagieren dies und angeregte Diskussionen über das vermeintlich typische Verhalten dieser oder jener Bevölkerungsgruppe nach dem Kinobesuch sind geradezu vorprogrammiert.

    Fazit: „Höhere Gewalt“ ist ein streckenweise brillant inszeniertes psychologisches Drama, allerdings tritt der Filmemacher inhaltlich in einige Fettnäpfchen und neigt zu fragwürdigen Verallgemeinerungen, die Vorurteilen Vorschub leisten können.

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