Gillian Flynns „Gone Girl“ und S.J. Watsons „Ich.Darf.Nicht.Schlafen.“ sind beides sehr erfolgreiche, größtenteils in Form eines Tagebuchs verfasste Bahnhofsshop-Thriller und beide Autoren gehen der spannenden Frage nach, wie weit man seinem nur scheinbar vertrauten Ehepartner tatsächlich über den Weg trauen sollte. Aber während David Fincher in seiner „Gone Girl“-Verfilmung mit einer extrem stilisierten Inszenierung den Pulp-Appeal der Vorlage ebenso bewusst wie brillant unterstreicht, geht Regisseur Rowan Joffe bei „Ich.Darf.Nicht.Schlafen.“ den entgegengesetzten Weg und erdet die Handlung trotz all der überraschenden Wendungen über weite Strecken erfolgreich, was nicht zuletzt einer unerwartet natürlich aufspielenden Hauptdarstellerin Nicole Kidman zu verdanken ist. Im Schlussdrittel lässt Joffe die zuvor aufgeworfenen faszinierenden Fragen zu Vertrauen und Identität allerdings zunehmend links liegen und steuert auf ein unpassend sentimentales Finale zu. So driftet der zuvor angenehm frostige Psychothriller auf der Schlussgeraden doch noch ins Melodramatische ab.
Wenn Christine Lucas (Nicole Kidman) morgens aufwacht, dann liegt neben ihr ein fremder Mann, und wenn sie in den Spiegel schaut, erkennt sie sich selbst kaum wieder. Die 40-Jährige wurde bereits als junge Studentin so schwer am Kopf verletzt, dass sie seitdem keine neuen Erinnerungen mehr bilden kann, weshalb Ehemann Ben (Colin Firth) ihr jeden Morgen aufs Neue beibringen muss, was in den vergangenen Jahren alles geschah und dass sie nicht mehr Anfang 20 ist. Als Christine sich eines Tages hilfesuchend an den Psychiater Dr. Nash (Mark Strong) wendet, empfiehlt dieser ihr, fortan ein Video-Tagebuch zu führen und ihrem Ehemann erst einmal nichts von der Therapie zu verraten. Und tatsächlich ergeben sich mit der Zeit immer mehr Zweifel daran, ob Ben ihr wirklich die ganze Wahrheit erzählt. Und damit stellt sich für die ausschließlich auf Informationen von anderen angewiesene Christine plötzlich die Frage, wem sie nun überhaupt noch trauen soll…
Verliert man mit seinen Erinnerungen auch seine Identität? Christine ist in den Händen ihres Mannes wie Lehm, denn er könnte ihr nach Gutdünken jeden Tag eine andere Geschichte über die verlorenen Jahre erzählen und sie so nach seinen Wünschen formen. Regisseur Joffe („Brighton Rock“) streut behutsam immer deutlicher werdende Brüche ein, um eine zunehmend bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen. Die lässt die zugegebenermaßen extrem konstruierte Ausgangssituation bald vergessen, zumal Nicole Kidman ihrerseits einen guten Teil dazu beiträgt, dass man das Geschehen jederzeit ernstnimmt. Im Gegensatz zu Rosamund Pike in „Gone Girl“ oder einer typischen Hitchcock-Leading-Lady erscheint sie eben nicht als überlebensgroße Ikone, sondern strahlt eine grandiose Natürlichkeit aus und verankert ihre Figur damit in einer identifikationsfördernden Normalität: Ihren Oscar mag sie mit einer Nasenprothese in Übergröße gewonnen haben (als Virginia Woolf in „The Hours“), aber in „Ich.Darf.Nicht.Schlafen.“ begeistert Nicole Kidman gerade dadurch, dass sie auf jegliche (Make-up)-Hilfsmittel verzichtet und die ganze Verletzlichkeit der schutzlosen Christine nicht nur spür- sondern auch sichtbar macht. Gerade von einem wegen seines Botox-Gebrauchs in die Klatschspalten geratenen Star wie Kidman war eine so schonungslos uneitle Darbietung nicht unbedingt zu erwarten.
Auch der zweite Oscar-Preisträger überzeugt: Nach „Railway Man“ verkörpert Colin Firth zum zweiten Mal innerhalb eines Jahres den Leinwand-Ehemann von Nicole Kidman und strahlt als Ben die von ihm aus Filmen wie „Tatsächlich Liebe“ oder „The King’s Speech“ gewohnte Gutmütigkeit aus, lässt aber immer wieder auch geschickt eine möglicherweise darunter lauernde Abgründigkeit durchblitzen. Mit dem großen Twist (der strenggenommen ziemlich hanebüchen ausfällt, aber der Genre-Logik des Films folgend durchaus vertretbar ist) bricht das sorgfältig entworfene Psychogramm allerdings zu wesentlichen Teilen in sich zusammen. Plötzlich gerät das erzählerische Konstrukt danach immer stärker aus den Fugen und die große finale Konfrontation erinnert schließlich gefährlich an den Showdown einer Seifenoper. Und was sich schon auf den letzten Seiten des Romans als unnötiger sentimentaler Nachklapp entpuppt hat, wird zwar von Regisseur Joffe auf wenige Szenen zusammengekürzt, aber auch die hinterlassen einen klebrig-süßen Nachgeschmack, der nicht so recht zur bewusst unterkühlten Atmosphäre des restlichen Films passen will.
Fazit: Über weite Strecken spannender Psychothriller mit einer wunderbar uneitlen Nicole Kidman, der im letzten Drittel deutlich abfällt.