Die Geschichte des alten, griesgrämigen Eigenbrötlers, der durch die Bekanntschaft mit einem Kind sein eigentlich doch auf dem richtigen Fleck sitzendes Herz entdeckt, ist im Kino wahrlich nichts Neues. So unterschiedliche Filme wie Clint Eastwoods „Gran Torino“ oder Takeshi Kitanos Meisterwerk „Kikujiros Sommer“ basieren auf dieser Prämisse, um nur mal zwei besonders prominente Beispiele zu nennen. Obwohl einem vieles in Theodore Melfis „St. Vincent“ bekannt vorkommt, einiges sogar direkt aus dem Kitano-Klassiker zu stammen scheint, fesselt die Tragikomödie des preisgekrönten Werbefilmers und Drehbuchautor von Anfang bis Ende und geht so richtig ans Herz. Vor allem die von Bill Murray in absoluter Bestform angeführte hervorragende Besetzung macht aus „St.Vincent“ ein wundervolles Filmerlebnis, bei dem auch die eine oder andere Träne verdrückt werden kann.
Nach der Trennung von ihrem untreuen Ehemann muss Maggie (Melissa McCarthy) mit ihrem 12-jährigen Sohn Oliver (Jaeden Lieberher) in eine eher schlichte Gegend ziehen und zudem den ganzen Tag arbeiten, um genug Geld zu verdienen. In ihrer Not bleibt ihr bald keine andere Wahl, als ihren neuen, stets finster dreinschauenden Nachbarn Vincent (Bill Murray) zu bitten, nach der Schule ein Auge auf Oliver zu haben. Dem Misanthrop von nebenan liegt eigentlich nichts ferner als ein Babysitter-Job, aber da er einen kleinen Zusatzverdienst sehr gut brauchen kann, lässt er sich darauf ein. Dem Jungen ist der alte, übellaunige Nachbar zuerst einmal suspekt. Schließlich verbringt Vincent seine Zeit am liebsten in einer Bar oder auf der Rennbahn, außerdem flucht er in einer Tour und sein einziger Umgang neben seiner Katze scheint die regelmäßig auf ein Schäferstündchen vorbeischauende hochschwangere Prostituierte Daka (Naomi Watts) zu sein. Doch er hat auch noch eine andere Seite, die er vor fast allen verheimlicht und die Oliver nach und nach zu Tage fördert.
Für Regisseur und Autor Ted Melfi stand nach eigener Aussage von Anfang an fest, dass nur Bill Murray die Hauptrolle übernehmen kann. Über Monate hinterließ er dem „Lost in Translation“-Star Nachrichten, die Planung der Produktion ging derweil schon voran, obwohl es noch keine Antwort des Darstellers gab. Als sich Murray dann schließlich zu einem Treffen bereit erklärte, konnte ihn Melfi mehr als nur überzeugen. Der durchaus als eigenwillig bekannte Schauspieler war begeistert und erklärte sich trotz seiner starken Allergie gegen die Tierhaare bereit, immer wieder mit einer Katze im Arm oder auf dem Schoß vor die Kamera zu treten. Und sein Einsatz und Enthusiasmus ist auf der Leinwand zu sehen: Murray ist schlicht großartig. Vincent schlurft fluchend durch das Haus und weist den jungen Oliver immer wieder brüsk ab und doch ist zu spüren, dass dieser verbitterte Mann trotz allem ein großes Herz hat. Murray spielt ihn als sehr tragische und zugleich auch sehr komische, aber nie lächerliche Figur: Vincent ist ein alter Mann, der sich mit einem Schutzpanzer gegen die Schicksalsschläge des Lebens zu wappnen versucht.
Dass es reichlich Rückschläge und Niederlagen in der Vergangenheit der Titelfigur gab, wird immer wieder angedeutet. Schon früh im Film sucht Vincent als Arzt verkleidet ein Altenpflegeheim auf und spricht dort liebevoll mit einer Patientin. Auch sein Umgang mit der schrillen Prostituierten Daka, die trotz ihrer Schwangerschaft weiter zu Freiern geht und an der Stange tanzt, weil sie das Geld braucht, lässt bald ahnen, dass dieser so abweisend auftretende Mensch lieben kann. Die Gegen-den-Typ-Besetzung der beiden weiblichen Hauptrollen mit Naomi Watts („King Kong“, „21 Gramm“) und Melissa McCarthy („Brautalarm“) ist im Übrigen ein weiterer Casting-Coup. Auch wenn der Daka-Handlungsstrang durchaus die eine oder andere kleine Länge aufweist, ist es ein Vergnügen zu sehen, wie die zweifach oscarnominierte Watts mit übertriebenem russischen Akzent, Stöckelschuhen und tiefem Dekolleté dem Affen so richtig Zucker gibt. Die sonst eher auf schrille Comedy-Rollen abonnierte McCarthy lässt es dagegen ruhig und feinfühlig angehen und hat eher kleinere Momente. Komplettiert wird die starke Besetzung von der durch Natürlichkeit glänzenden Nachwuchsentdeckung Jaeden Lieberher, der eben keine weitere Variante des neunmalklugen kleinen Jungen verkörpert und sich auch dem zu Tränen rührenden Finale gewachsen zeigt.
Fazit: „St. Vincent“ ist eine sehenswerte Tragikomödie mit einem starken Ensemble, aus dem Bill Murray noch einmal herausragt.