Perfektionist. Auf keinen anderen Regisseur der Filmgeschichte passt diese Beschreibung besser als auf Stanley Kubrick. Nicht zuletzt, dass Kubrick in 47 Jahren nur 13 Spielfilme gedreht hat und die Pausen zwischen den einzelnen Filmen mit Fortlauf der Karriere immer länger wurden, trugen zum Mythos der Kubrickschen Perfektion bei: Jedes Detail seiner Filme, egal ob es wahrnehmbar ist oder nicht, soll Kubrick penibel kontrolliert haben. Und auch wenn diese Vorstellung angesichts der Komplexität einer Filmproduktion ganz offensichtlich mit großer Vorsicht zu genießen ist, ist sie die Basis von Rodney Aschers faszinierendem Dokumentarfilm „Room 237", mit dem dieser Kubricks Meisterwerk „Shining" auf den Grund geht und sogar die Verschwörungstheorien rund um den Horror-Klassiker präsentiert.
Sechs Gesprächspartner hat Rodney Ascher interviewt, wobei man bedauerlicherweise nichts über ihre Qualifikation erfährt. So steht ein respektabler Historiker wie Geoffrey Cocks, der in seinem Buch „The Wolf at the Door" Kubricks Werk auf Bezüge zu Deutschland und insbesondere dem Holocaust untersucht, gleichberechtigt neben Jay Weidner, der mit seinen selbstgedrehten Internetvideos, die er über eine eigene Seite vertreibt, ziemlich genau dem Typus des latent durchgedrehten Verschwörungstheoretikers entspricht. Andererseits passt dieses Nebeneinanderstellen von offensichtlich bizarren und einleuchtenden Thesen zu Aschers neutralem Blick: Einer eigenen Position enthält er sich völlig, will nicht die eine über die andere Theorie stellen, sondern zeigt in einer collagenhaften Montage nur auf, welch vielfältige Gedankengänge ein einzelner Film hervorbringen kann.
Lose in neun Kapitel unterteilt behandelt „Room 237" zweierlei Aspekte: Einfache Beobachtungen über stilistische bzw. inhaltliche Auffälligkeiten in „The Shining" und mehr oder weniger komplexe Theorien über die Bedeutung des Films. Zu ersterem zählen zahllose Anschlussfehler: Etwa die Fassade des Hotels, die zwischen der Außenaufnahme in Oregon, und dem im Studio in London nachgebauten Model variiert, die Unterschiede zwischen dem echten Labyrinth und einem Modell oder dem bizarren Moment wenn Wendy die Speisekammer durch eine Tür betritt, die beim Hinausgehen plötzlich eine andere ist. Die Häufung solcher fraglos bewusst eingesetzter visueller Irritationen mag beim ersten Sehen kaum auffallen, sorgen aber für die verstörende Stimmung, die Kubrick intendierte.
Noch spannender sind Diskrepanzen in der Geographie des Hotels: Wenn etwa Jack zum ersten Mal das Hotel betritt und zum Vorstellungsgespräch das Büro des Managers betritt, ist deutlich zu erkennen, dass das Büro sich mitten im Gebäude befindet. Dass eben dieses Büro dennoch ein Fenster nach Außen hat – was eigentlich unmöglich ist - zählt zu den vielen Irritationen, die leicht übersehen werden, sich aber in das komplexe Spiel fügen, dass Kubrick mit der Wahrnehmung des Zuschauers spielt.
„Kubrick war gelangweilt" meint einer der Interviewpartner dazu. Gelangweilt vom normalen Kino, von konventioneller Narration, von Bildern, die zwar schön, aber essentiell leer waren. Deswegen legte er es bei „The Shining" darauf an, dass Kino in neue Dimensionen zu führen und mit unterschwelligen Botschaften zu arbeiten. Wie sehr der Perfektionist Kubrick auf Details achtete, dürfte schon klar geworden sein, wie sehr der Glaube an den Perfektionisten Kubrick Anlass für bizarre Thesen ist, auch das zeigt „Room 237." Dass Kubrick „The Shining" dazu nutzt, auf unterschwellige Weise zu gestehen, dass er die Aufnahmen der Mondlandung gefilmt hat, zählt dabei zu den bizarreren Theorien. Als entscheidender Beweis gilt dabei Dannys Pullover, der in einer Szene eine Apollo 11 Rakete zeigt....
Ähnlich absurd mutet der Versuch eines "Shining"-Fanatikers an, den Film gleichzeitig vor- und rückwärts ablaufen zu lassen. Bisweilen ergibt das zwar markante Dopplungen, die allerdings fraglos ebenso zufällig sind, wie die Parallelen zwischen „Der Zauberer von Oz" und dem Pink Floyd Album „Dark Side of the Moon", die beim gleichzeitigen Abspielen ebenfalls versteckte Botschaften enthüllen sollen. Während solche „Theorien" eher für Heiterkeit sorgen haben andere Hand und Fuß.
Dass „The Shining" nicht zuletzt eine Reflektion über die Vernichtung der amerikanischen Ureinwohner ist, ist angesichts zahlloser Verweise auf indianische Kultur und Geschichte geradezu offensichtlich. Noch weiter geht Geoffrey Cocks, der angesichts der Schreibmaschine deutscher Herkunft, den zahlreichen Adlern und der wiederkehrenden Zahl 42 (so wie 1942, dem Jahr des Beschluss der „Endlösung") einen klaren Hinweis darauf sieht, dass sich „The Shining" um den Holocaust dreht. Zwingender erscheint da allerdings die These, dass es ganz allgemein um den langen Arm der Geschichte geht. Immer wieder scheint Kubrick Gegenwart und Vergangenheit zu verschmelzen, scheint er anzudeuten, dass man der Erinnerung an die Vergangenheit nicht entkommen kann, dass man ihr stattdessen aktiv entgegentreten muss, um sie zu verarbeiten.
Was auch immer Kubrick tatsächlich intendierte, folgt man postmodernen Theorien ist die Intention des Autors ohnehin nebensächlich. Was immer man in einem Werk sieht hat Relevanz. Und nur wenige Filme der Filmgeschichte haben zu so unterschiedlichen, faszinierenden, bizarren, absurden, komischen, hellsichtigen Thesen eingeladen wie Kubricks „The Shining" – was ganz ohne Frage für die zeitlose Qualität dieses Meisterwerks spricht.
Fazit: Rodney Aschers Dokumentation „Room 237" trägt vielfältige Thesen zu Stanley Kubricks „The Shining" zusammen, die auf ebenso unterhaltsame wie erhellende Weise die Komplexität dieses nur vordergründig banalen Thrillers aufzeigen. Das erste, was man nach diesem Film tun will: Noch mal „The Shining" sehen.