Mit seinem Indie-Drama „Short Term 12“ hat Regisseur Destin Daniel Cretton 2012 ein kleines Kinowunder geschaffen (und von uns fünf Sterne dafür erhalten). Einen wesentlichen Anteil an der intensiven Wirkung des Films hatte auch die junge Schauspielerin Brie Larson, die inzwischen sogar zur Oscarpreisträgerin aufgestiegen ist (für ihre Rolle als gemeinsam mit ihrem Sohn gekidnappte Mutter in „Raum“). Bei der ersten Hollywood-Studioproduktion Crettons haben sich Filmemacher und Darstellerin nun erneut zusammengetan: Die Bestsellerverfilmung „Schloss aus Glas“ zeigt einerseits, dass sich Wunder auch im Kino nicht beliebig wiederholen lassen. Aber andererseits – und das ist viel wichtiger – kommen auch in dem verschachtelt erzählten Familiendrama nach den gleichnamigen Lebenserinnerungen von Jeannette Walls das besondere Feingefühl des Regisseurs und die furchtlose Emotionalität der Schauspielerin zur Geltung. Und diese Eigenschaften sind es vor allem, die den etwas ausufernd angelegten „Schloss aus Glas“ zusammenhalten. Sie machen unter tatkräftiger Mithilfe des großartigen Woody Harrelson („No Country For Old Men“) aus einer wahren Geschichte einen wahrhaftigen Film.
1989. Die erfolgreiche Klatschjournalistin Jeannette Walls (Brie Larson) ist im Taxi unterwegs in ihre Luxuswohnung, als sie unter den Gestalten, die am Straßenrand in Müllcontainern herumwühlen, ihre Eltern Rose Mary (Naomi Watts) und Rex (Woody Harrelson) erkennt. Sie duckt sich, damit sie nicht entdeckt wird – und ist hinterher von ihrem eigenen Verhalten schockiert. Ihr Verlobter, der Finanzberater David (Max Greenfield), sieht dafür keinen Grund und würde am liebsten auf jeden Kontakt zu ihrer Familie verzichten. Dennoch willigt er ein, Jeannette zu einem Besuch bei Vater und Mutter zu begleiten, die inzwischen in einem leerstehenden, abbruchreifen Haus leben. Zunächst verläuft das Treffen bei der erfolglosen Künstlerin und dem Ingenieur mit Alkoholproblem, zu dem auch Jeannettes Geschwister Lori (Sarah Snook), Brian (Josh Caras) und Maureen (Brigette Lundy-Paine) erschienen sind, recht zivilisiert, aber dann provoziert Rex David zu einer Runde Armdrücken - und die Situation entgleist völlig…
Während die mehr als vier Millionen Mal verkaufte und in 31 Sprachen übersetzte Buchvorlage abgesehen vom Beginn weitgehend chronologisch erzählt ist, haben sich Destin Cretton und sein Co-Drehbuchautor Andrew Lanham („Die Hütte – Ein Wochenende mit Gott“) für eine Rückblendenstruktur entschieden, in der die bewegte Kindheit von Jeannette, ihrer älteren Schwester Lori, dem jüngeren Bruder Brian und Maureen, der Kleinsten im Bunde, schlaglichtartig mit der Gegenwart Ende der 1980er kontrastiert wird, als die Protagonistin langsam auf die 30 zugeht. Diese Fragmentierung erlaubt eine effektvolle Zuspitzung auf die wesentlichen Themen und Konflikte, erschwert aber zunächst etwas das Kennenlernen und Hineinfühlen. So bleibt Mutter Rose Mary mit ihrer mal entwaffnenden und mal irritierenden Weltfremdheit so weit im Hintergrund, dass selbst ein Star wie die sich betont unglamourös gebende Naomi Watts („King Kong“) das nicht komplett ausgleichen kann. Man hat letztlich kaum Zeit, sich über diese Frau zu wundern, die ihren hungrigen Kindern allen Ernstes sagt, dass sie von einem Bild länger etwas hätten als von Essen.
Die wunderlichen Szenen von elterlicher Vernachlässigung und Verantwortungslosigkeit haben mehr noch als im Buch immer auch etwas von einem großen unerhörten Abenteuer – und es ist gar nicht so einfach zu sagen, ob das an Woody Harrelsons Gaukler-Charme liegt oder an Crettons geschickter Regie. Der Filmemacher gibt den Bildern einen ordentlichen Schuss Hollywood-Glanz (auch Armut und Verfall sind hier irgendwie schön), ohne dass er deshalb das Abgründige aus den Augen verlieren würde. Er zeigt den aufbrausenden Vater, dessen Vorstellungen vom Kindeswohl in vielen Punkten die objektiven Kriterien des Missbrauchs erfüllen, aber der darf zugleich auch ein liebenswerter Fantast sein. Und wenn Rex der noch kleinen Jeannette (hier: Olivia Kate Rice) in einer beklemmenden Szene das Schwimmen „beibringt“, dann entlarvt er wenigstens direkt hinterher den Bademeister als Rassisten. Er ist ein Unbelehrbarer, der seine Dämonen im Alkohol ertränkt, aber er ist auch ein charismatischer Freigeist (so etwas wie ein entfernter Verwandter von Viggo Mortensens „Captain Fantastic“), der sich unverzagt gegen die Zwänge der Gesellschaft stellt: Wer braucht schon eine Schule, wenn er die Geheimnisse des Lebens viel besser in der freien Natur studieren kann? Wer braucht schon Geld, wenn er einfach die Sterne verschenken kann?
In einer Schlüsselszene sitzt Rex vor den Plänen des extravaganten Familientraumhauses, die er von Ort zu Ort und von Job zu Job quer durchs Land mitschleppt. Er ist fest überzeugt, dass dieses gemeinsam mit Frau und Kindern ersonnene „Schloss aus Glas“ eines Tages Wirklichkeit wird. Aber außer ihm, dem Träumer und Trinker, glaubt keiner mehr so recht daran – auch seine Lieblingstochter Jeannette (hier: Sadie Sink) nicht mehr, die immer zu ihm gehalten hat. Er sagt ihr, wie sehr er ihre Unterstützung braucht. Das ist ehrlich und tief empfunden, aber es bürdet dem Mädchen auch eine riesige Last auf. Jeannette möchte ihm helfen, erkennt jedoch zugleich (viel besser als ihre Mutter), dass der selbstzerstörerische Rex die ganze Familie mit in den Abgrund zu reißen droht. Vater und Kind tauschen hier nur wenige Worte und Blicke, aber in ihnen liegt ein unglaublich intensives, widersprüchliches und wahrhaftiges Gemenge aus Liebe, Kummer und Enttäuschung: Woody Harrelson, der den flamboyanten Rex überzeugend erdet und in den nachdenklichen Momenten besonders beeindruckt, und seine junge Partnerin verleihen den trotz ihres „wahren Ursprungs“ extrem romanhaften Figuren echtes Leben.
Wenn am Ende die Fäden zusammenlaufen, dann schließen alle Nähte sauber ab – so wie das im Leben wohl kaum möglich wäre. Aber es geht hier gerade nicht darum zu behaupten, das versöhnliche Festhalten an den schönen Erinnerungen, die es eben auch gibt, könne alle Wunden heilen: Wenn Destin Cretton zum Abschluss die realen Vorbilder der Figuren vor die Kamera holt, dann unterstreicht er die Differenz zwischen der Wirklichkeit und ihrem Hollywood-Abbild ganz bewusst: Ganz ähnlich wie in „Short Term 12“ geht es in „Schloss aus Glas“ nämlich auch um die heilsame Kraft des Geschichtenerzählens. Die Momente des Horrors (wie ein Zwischenfall mit der Großmutter Erma) werden nicht ausgespart, aber Cresson gibt sich der Verzweiflung nie hin. So erwachsen dann aus dem Trauma eben eine besondere Loyalität zwischen den Geschwistern und sogar eine Ahnung von den Leiden des Vaters. Und hier kommt wieder Brie Larson ins Spiel: Sie sorgt für die Zwischentöne in der nicht immer subtilen (Gegenwarts-)Erzählung. Ihre Jeannette ist eine junge Frau, die sich erst von der Vergangenheit befreien muss, um sie akzeptieren zu können – und das erreicht sie, indem sie ihre Geschichte erzählt.
Fazit: „Short Term 12“-Regisseur Destin Daniel Cretton verfilmt den autobiografischen Bestseller von Jeannette Walls: „Schloss aus Glas“ ist ein hochemotionales und facettenreiches Familiendrama, das von Woody Harrelson und Brie Larson darstellerisch veredelt wird.