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    Das große Heft
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    2,0
    lau
    Das große Heft
    Von Sascha Westphal

    In der Regel provozieren Romanverfilmungen bei den Lesern der Vorlage ein Gefühl von Enttäuschung. Die ist mal größer und mal weniger groß. Doch eine Differenz bleibt eigentlich immer. Die Bilder, die der Regisseur und sein Team schließlich gefunden haben, entsprechen eben nicht den Bildern, die der einzelne Leser vor seinem inneren Auge hatte. Insofern ist es immer ratsam, Roman und Film so weit wie möglich voneinander zu trennen, beide nur für sich zu betrachten und auf Vergleiche weitgehend zu verzichten. Doch manchmal ist gerade das nicht möglich. Dann geht es, wie im Fall von János Szász’ Adaption von Ágota Kristófs Roman „Das große Heft“, diesem erschreckend sachlichen Porträt einer Jugend in den letzten Jahren des Zweiten Weltkriegs, auch nicht mehr nur um die unterschiedlichen Bilder im Kopf einzelner Leser, sondern um grundsätzliche Entscheidungen und Wahrnehmungen. Szász’ Verfilmung enttäuscht vor dem Hintergrund des Romans nicht nur, sie verkehrt ihn praktisch ins Gegenteil.

    Das Leben in der Stadt ist für die namenlos bleibenden Zwillinge (András und László Gyémánt) zu gefährlich geworden. Die feindlichen Bomber kommen zu oft. Also beschließt ihre Mutter (Gyöngyver Bognar), die beiden 13-jährigen Jungen aufs Land zu ihrer Großmutter (Piroska Molnár) zu bringen. Bei der alten Frau, die ihren kleinen Hof seit Jahren alleine bewirtschaftet und von den Menschen im Dorf nur mit Misstrauen beäugt wird, sind die zwei zwar nicht in Sicherheit, aber zumindest ein wenig geschützt. In einem großen Heft, das ihnen ihr Vater (Ulrich Matthes) gegeben hat, sollen sie alles aufschreiben, was sie sehen und erleben. Nur sollen sie sich dabei alleine an die Fakten halten, wie in einem Gerichtsprotokoll, in dem für Gefühle und Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste kein Platz ist.

    Die Vorgabe, nur das zu protokollieren, was objektiv erfassbar ist, verleiht Ágota Kristófs Roman eine bemerkenswerte Radikalität. In kurzen, ungeheuer präzisen Sätzen umreißt er das Leben der Zwillinge während des Krieges und in den ersten Monaten und Jahren danach. Die in Ungarn geborene und später in die Schweiz emigrierte Schriftstellerin verwendet Sprache fast wie einen Fotoapparat. Jeder Satz fängt ein Detail im Leben der Zwillinge so realistisch wie möglich ein. Damit scheint dieser Roman geradezu prädestiniert für eine Verfilmung. Schließlich muss der Filmemacher diese sorgsam umrissenen Bilder und Szenen einer traumatischen Zeit nur nachstellen, aber eben auch ohne jede Emotion und auch ohne jede Überhöhung oder Kommentierung. Nur war Regisseur János Szász („Woyzeck“) genau dazu nicht bereit.

    Anders als die Schriftstellerin, die ganz hinter ihren Erzählern verschwindet und die Welt alleine durch deren Augen betrachtet, ist Szász in nahezu jeder Einstellung des Films präsent. Er und sein Kameramann Christian Berger („Das weiße Band“) haben sich eben nicht für einen quasi-dokumentarischen Stil entschieden. Ihre Bilder protokollieren die Ereignisse in dem ungarischen Dorf nahe der Grenze nicht, sondern setzen sie gezielt in Szene. In einzelnen Augenblicken geht diese Strategie sogar auf. Um sich selbst abzuhärten und mit all dem, was über sie hereinbricht fertig zu werden, ersinnen die Zwillinge Übungen. So schlagen und beschimpfen sie sich gegenseitig so lange, bis sie den Schmerz nicht mehr spüren, bis sie unempfindlich gegen jede Verletzung geworden sind. Die beiden Kinodebütanten András und László Gyémánt zeigen in diesen Szenen nicht die geringste Emotion. Ihre Gesichter sind so leer wie die weißen Blätter in dem Heft der Zwillinge. Und in dieser Leere offenbart sich das Wesen der Welt, die Ágota Kristóf beschreibt. Eine Welt, der nichts fremd ist.

    Die große Herausforderung des Romans liegt in seiner unendlichen Toleranz. Ágota Kristóf zeigt die Menschen, wie sind, hässlich und klein, brutal und rachsüchtig, aber sie verurteilt sie nicht. Die Krieg und die sich anschließende russische Besatzung erweisen sich dabei als eine Art Brennglas, das das Wesen der Dinge wie der Menschen nur klarer zum Vorschein bringt. Alle Schrecken und Gräuel, die Kristóf in der unfassbar sachlichen Sprache beschreibt, sind zutiefst menschlich. Doch davon kann in János Szász’ Adaption nicht mehr die Rede sein. Er geht den einfachen, den moralisch eindeutigen Weg.

    Fazit: János Szász überhöht in seiner aufdringlichen Verfilmung von Ágota Kristófs meisterlichem Roman die Geschehnisse ständig, die Gewalttaten genauso wie die sexuellen Obsessionen, mit denen die Zwillinge konfrontiert werden. Das Dorf ist nicht einfach nur ein menschlicher Mikrokosmos, es ist die Hölle auf Erden, und ausgerechnet die Zwillinge erweisen sich als deren finsterste Dämonen. So wird aus einer distanzierten Bestandsaufnahme ein emotional aufgeladenes Schreckensgemälde, das seinem Betrachter jede Emotion vorgibt und keinerlei Zweifel oder Fragen gestattet.

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