Man muss schon lange suchen, um angesichts der unzähligen filmischen Arbeiten zum Thema Drittes Reich – von Guido Knopps erfolgreicher TV-Reihe „Hitlers Helfer" über Oscar-Abräumer wie Steven Spielbergs „Schindlers Liste" bis zu deutschen Kino-Highlights wie Oliver Hirschbiegels Bunkerdrama „Der Untergang" – einen halbwegs relevanten Nazi-Schergen oder Widerstandskämpfer zu finden, der noch nicht ausgiebig beleuchtet wurde. Der englische Regisseur Robert Young widmete sich 2007 im nach seiner Hauptfigur benannten „Eichmann" einer besonders berüchtigten NS-Größe. Weniger bekannt ist hingegen Eichmanns Vorgänger in der SS, Baron Leopold von Mildenstein. Um eben jenen geht es in Arnon Goldfingers deutsch-israelischer Dokumentation „Die Wohnung": Der Filmemacher begibt sich in den vier Wänden seiner verstorbenen Großmutter auf Spurensuche. Durch die akribische Analyse alter Zeitungsartikel und verstaubter Fotografien sowie über Interviews mit Weggefährten und Zeitzeugen wirft Goldfinger unangenehme Fragen zur eigenen Familiengeschichte auf – Fragen, die allerdings auch nach ausgiebiger Recherche-Arbeit nur unzureichend beantwortet werden können.
Mehr als 70 Jahre lang lebte Gerda Tuchler mit ihrem Ehemann Kurt in einer Wohnung in Tel Aviv, ohne jemals etwas wegzuwerfen. Neben allerlei wertlosem Schmuck, unzähligen Geldbörsen und Dutzenden Handschuh-Paaren birgt der Nachlass der mit 98 Jahren verstorbenen deutschen Auswanderin auch einen gewaltigen Fundus an alten Bildern und Briefen, die von einer Vergangenheit erzählen, von der der israelische Regisseur Arnon Goldfinger (als Erzähler gesprochen vom Kieler „Tatort"-Kommissar Axel Milberg) und seine Verwandten nicht einmal eine Ahnung hatten. Gemeinsam mit seiner Mutter durchstöbert der Enkel die alten Gemächer – dabei fallen ihm Dokumente in die Hände, die einen langjährigen Kontakt seiner Großeltern zum SS-Kommandanten Leopold von Mildenstein und dessen Ehefrau attestieren.
„Ich bekenne mich im Sinne der Anklage nicht schuldig!", wetterte Hermann Goering, als ihm in Nürnberg der Prozess gemacht wurde. Adolf Eichmann, ausführender Kopf des Holocaust, war da einige Jahre später schon realistischer. In Israel räumte er vor Gericht seine Zuständigkeit ein, nannte jedoch auch Leopold von Mildenstein als Mitverantwortlichen für den Völkermord an den Juden. Bekannt wurde letzterer vor allem durch pro-zionistische Artikel im Propagandablatt „Der Angriff" unter dem Titel „Ein Nazi fährt nach Palästina": Von Mildenstein vertrat eine gemäßigte Meinung in der „Judenfrage" und machte sich für einen jüdischen Nationalstaat in Palästina stark, kam mit derartigen Plänen allerdings nie an Fanatikern wie Hitler oder Goebbels vorbei. Dass viele Details aus von Mildensteins Lebenslauf bis heute nicht eindeutig zu belegen sind, nimmt Goldfinger zum Anlass, nachzuforschen: Was als vorerst harmlose Familiengeschichte beginnt, entwickelt sich schnell zu investigativem Journalismus. Nicht von ungefähr wurde „Die Wohnung" bei den Filmfestspielen in Jerusalem und Haifa als „Beste Dokumentation" ausgezeichnet.
Dabei steigert Goldfinger das Interesse seines Publikums an einem bis dato kaum porträtierten Nazi-Offizier kontinuierlich und steuert zielsicher auf die bittere Konfrontation der von-Mildenstein-Tochter mit den Recherche-Ergebnissen zu. Die vermag kaum zu akzeptieren, was sich aus den Briefen der verstorbenen Großmutter Goldfinger und den im Bundesarchiv schlummernden, handschriftlichen Dokumenten eindeutig ergibt: Ihr Vater war ein Nazi. Goldfinger macht aber nicht den Fehler, voreilige Schlüsse zu ziehen, wenn er feststellt, dass von Mildensteins genaue Tätigkeit nach 1937 letztlich im Unklaren bleibt. Eindeutig nachweisen kann er nur die Mitgliedschaft in der NSDAP und der SS. So geht es hier eher um Fragen statt um Antworten – harte Erkenntnisse sind hier Mangelware, ein finales Aha-Erlebnis bleibt aus. Aber gerade durch die Schwierigkeiten und die Sackgassen ist „Die Wohnung" so spannend und erst durch sie wird die Bedeutung des Nachforschens und des Nachfragens klar. Eine dazu passende Pointe liefert Goldfinger mit der vorletzten Sequenz des Films: Ratlos sucht der Regisseur dort mit seiner Mutter auf einem verwilderten Friedhof nach einem Grab, das nicht mehr zu existieren scheint.
Fazit: Arnon Goldfinger rückt einen bis dato kaum porträtierten Nazi-Offizier, um den sich bis heute viele Gerüchte ranken, in den Mittelpunkt seiner Dokumentation, liefert aber trotz sauberer Recherche und gekonnter Inszenierung nur wenig neue Einsichten. Hier zählt die Auseinandersetzung, nicht das Resultat.