„The Cut“ ist in vielerlei Hinsicht ein besonderer Film in der Karriere von Fatih Akin. Die an Schauplätzen rund um die Welt gedrehte Produktion ist nicht nur seine bislang teuerste und seine erste in englischer Sprache. Sie ist auch das Werk, bei dem der Hamburger Regisseur seinem großen Vorbild Martin Scorsese nicht nur filmisch (wie bei seinem Debüt „Kurz und schmerzlos“), sondern auch persönlich ganz nahe kam: Akin holte sich zum einen Scorseses früheren Drehbuchschreiber Mardik Martin als Co-Autor an Bord, vor allem aber sah sich der Oscar-Preisträger persönlich eine frühe Rohfassung von „The Cut“ an und gab Akin Hilfestellungen für den weiteren Schnitt. Und schließlich wagt sich der deutsch-türkische Regisseur hier an ein ebenso gewichtiges wie umstrittenes Thema: die in der Türkei über Jahrzehnte systematisch totgeschwiegene Vertreibung und Ermordung Hunderttausender Armenier (einige Historiker sprechen sogar von 1,5 Millionen Opfern) während des Ersten Weltkriegs. Was nicht nur in Armenien, sondern auch in Frankreich und vielen anderen Ländern offiziell als Völkermord eingestuft wird, will Akin unbedingt einer möglichst großen Öffentlichkeit ins Bewusstsein rufen. Seine Wut und sein Mitteilungsdrang sind in „The Cut“ jederzeit spürbar. Diese starken Gefühle sorgen dafür, dass der Film zwischendurch sehr plakativ und ausufernd gerät, gleichzeitig machen sie ihn aber auch zu einem ungeheuer kraftvollen und eindringlichen Drama.
1915: Der armenische Schmied Nazaret Manoogian (Tahar Rahim) lebt mit seiner Frau Rakel (Hindi Zahra) sowie den Zwillingstöchtern Arsinée und Lucinée (Zein und Dina Fakhoury) wie so viele seiner Landsleute im Osmanischen Reich. Der Erste Weltkrieg scheint weit weg, doch dann werden Nazaret, sein Bruder Hrant (Akin Gazi) und Schwager Vahan (George Georgiou) wie alle armenischen Männer im richtigen Alter nachts von türkischen Polizisten aus ihren Häusern gezerrt und sollen angeblich dem Militär beitreten. In Wirklichkeit geht es darum, andersgläubige Minderheiten aus dem Land zu vertreiben. Bei Straßenbauarbeiten müssen sich Nazaret und die anderen Christen zu Tode schuften. Nur wer zum Islam konvertiert, darf wieder gehen. Als ihre Arbeit erledigt ist, kommt grausamen Söldnern und Ex-Sträflingen die Aufgabe zu, ihnen die Kehle zu durchschneiden. Nazaret überlebt das Massaker nur, weil es der ehemalige Dieb Mehmet (Bartu Küçükçaglayan) nicht übers Herz bringt, richtig zuzustechen und nur seine Stimmbänder durchtrennt. Stumm und schwerverletzt zieht Nazaret nun durch die Wüste, schließt sich kurzzeitig einem Trupp Deserteure an, trifft in einem Flüchtlingslanger auf seine im Sterben liegende Schwägerin (Arevik Martirosyan), die ihm nur sagen kann, dass alle tot sind, und landet nach mehreren Jahren Odyssee schließlich in Aleppo. Die von den Engländern besiegten Türken haben die Stadt verlassen und nun sammeln sich dort viele Flüchtlinge. Nazaret erfährt, dass seine Töchter noch leben sollen und macht sich auf die Suche…
Es ist das berührende Highlight von „The Cut“, als Nazaret in Aleppo über eine neue Erfindung namens Kino stolpert. Auf einem Platz irgendwo mitten in der Stadt versammeln sich unzählige Flüchtlinge, die in den Jahren zuvor immenses Leid durchlebt, große Teile ihrer Familien verloren haben oder von ihnen getrennt wurden. Für einige Minuten können sie mit Charlie Chaplins Klassiker „Der Vagabund und das Kind“ ihren Sorgen entfliehen. Nazaret, der seine Töchter vermisst, und viele andere sind tief ergriffen von der Geschichte eines Mannes, der um „sein“ Kind kämpft. Nach der Vorführung läuft dem weinend auf dem Platz zurückgebliebenen Nazaret zufällig sein alter Lehrling Levon (Shubham Saraf) über den Weg und erzählt ihm, dass seine Töchter noch leben sollen. Diese Szene ist typisch für Akins Erzählweise in diesem Film. Sie wirkt dramaturgisch willkürlich und ist zudem alles andere als subtil erzählt, doch spielt all das angesichts ihrer emotionalen Kraft kaum eine Rolle. Als mitfühlender Zuschauer möchte man vielmehr zuerst mit Nazaret weinen und dann mit ihm jubeln: Wir bekommen mit ihm neue Hoffnung. Dass Akin hier einen Film von Chaplin einsetzt, ist dabei natürlich kein Zufall. Sein Nazaret wirkt bisweilen wie eine moderne Version des Tramps Charlie: In den ersten Minuten von „The Cut“, seinen wenigen glücklichen Momente, springt er mit breitem Lachen durch die Stadt. Später erinnert er an die tragische Seite von Chaplins berühmtester Figur und wenn es nicht so ernst und dramatisch wäre, hätte es fast schon etwas bitter Komisches wie der stumme Nazaret immer wieder seine Töchter bei seiner Suche rund um die Welt verpasst.
Akin hat viel zu erzählen. Sein ursprüngliches Drehbuch war so ausufernd, dass sein Co-Autor Mardik Martin, der unter anderem an den Skripts zu den Scorsese-Filmen „Wie ein wilder Stier“, „Hexenkessel“ und „New York, New York“ beteiligt war und von Akin überzeugt wurde, nach über 30 Jahren des Unterrichtens in die filmische Praxis zurückzukehren, es erst einmal radikal zusammengestrichen hat. Herausgekommen ist schließlich ein 138-minütiger Film mit unzähligen dramatischen Wendungen und einer erstaunlichen Vielfalt von Themen, Motiven und Schauplätzen. Von den glücklichen Tagen der Familie Manoogian in Mardin, über die Zeit Nazarets im Arbeitsdienst, seine Odyssee durch die Wüste und die kurze Ruhephase in Aleppo bis zu seiner nächsten Irrfahrt rund um die Welt: Fast schon zwangsläufig wechselt der Regisseur immer wieder Genre und Stil. So ist „The Cut“ zwar hauptsächlich ein knüppelhartes Drama, gelegentlich wirkt er aber auch wie ein Western – sogar inklusive eines Kutschenüberfalls – und zudem gibt es durchaus auch komische Momente. Die erzählerischen Kontraste werden durch die diversen gegensätzlichen Handlungsorte zwischen der heißen Sandwüste, dem Inselparadies Kuba und einer frostigen Schneelandschaft, zwischen der Weite der Natur und engen städtischen Gassen, noch verstärkt. Und auch wenn die Wechsel manches Mal arg abrupt geraten, schaffen es Akin und sein hochkarätiges Team, das von Produktionsdesigner und Oscarpreisträger Allan Starski („Schindlers Liste“, „Der Pianist“) angeführt wird, jedem einzelnen Setting mitsamt teilweise riesiger Statistenaufläufe Leben und Glaubhaftigkeit einzuhauchen.
Die überzeugende Verankerung von Nazarets unglaublich wechselhaftem Schicksal in Ort und Zeit hat entscheidenden Anteil daran, dass „The Cut“ über die gesamte Laufzeit fesselt und dass die mitunter allzu offensichtlichen Zuspitzungen den Film nicht nachhaltig aus dem Takt bringen. Die Nebenfiguren wirken bisweilen wie Bauern auf einem Schachbrett, deren Züge jederzeit vorhersehbar sind und die bis zum Ende nur Mittel zum (dramaturgischen) Zweck bleiben. Da ist von vornherein klar, dass wir etwa dem freundlichen Kunden Nazarets vom Beginn später wiederbegegnen werden und es wirkt überaus kalkuliert, wenn sich der unfreiwillig zum Bandit gewordene Schmied bei dem erneuten Treffen dann exemplarisch mit einem moralischen Dilemma auseinandersetzen muss. Aber das nimmt Akin genauso wie einige andere Vereinfachungen und Vergröberungen in Kauf, denn er will mit diesem Film nach eigenem Bekunden in erster Linie die Öffentlichkeit aufrütteln - vor allem in der Türkei und in Armenien. Die Zuschauer dort und überall sonst, Christen, Juden und Moslems sollen sich mit dem etwas zu naiven Protagonisten identifizieren können, dem daher fast schon zwangsläufig echte Ecken und Kanten fehlen. Und tatsächlich bleibt man immer auf Nazarets Seite – dafür sorgt auch die eindrucksvoll-emotionale Darstellung durch Tahar Rahim („Ein Prophet“): Mit dieser erschütternden Passionsgeschichte eines Mannes, der nicht zufällig so heißt wie der Ort, an dem Jesus aufwuchs, vollendet Fatih Akin seine mit „Gegen die Wand“ begonnene und mit „Auf der anderen Seite“ fortgesetzte „Liebe, Tod und Teufel“-Trilogie und kommt an den vorläufigen Endpunkt seiner persönlichen Reise vom Intimen zum Epischen.
Fazit: Erschütterndes, leidenschaftliches und bisweilen ausuferndes Drama über ein viel zu wenig beachtetes Kapitel der Weltgeschichte.