Seit Joseph Conrads „Herz der Finsternis" von 1899 haben sich Geschichtenerzähler in Literatur und Film immer wieder mit den Irrwegen und Verbrechen des europäischen Kolonialismus in Afrika auseinandergesetzt. Mit seiner literarischen Odyssee schuf Conrad den Archetyp eines haltlosen Helden, der sich erst im exotischen Dickicht Afrikas verlieren muss, ehe er zu sich selbst finden kann. Auch im Kino hat das Thema spannende Werke inspiriert, etwa Werner Herzogs schwieriges Kinski-Epos „Cobra Verde" oder zuletzt „Schlafkrankheit", Ulrich Köhlers freie Neuauslegung der Conrad‘schen Erzählung. Die europäische Verunsicherung im Umgang mit Afrika ist noch lange nicht ausgeräumt. Auch der Portugiese Miguel Gomes („Our Beloved Month of August") setzt sich in „Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld" mit dem schwelenden Schuldkomplex Europas auseinander. Im späteren Verlauf wird der Film zu einem reizend-altmodischen und expressionistischen Stück Kino. Davor hat der Regisseur allerdings eine Exposition gesetzt, die sich in ihrer erzählerischen Reduktion und formalen Einseitigkeit als Geduldsprobe erweist.
Pilar (Teresa Madruga) tut Gutes, wo sie nur kann, wird von ihren Mitmenschen aber trotzdem immer wieder enttäuscht. Gesellschaft findet die einsame Frau bei ihrer kauzig-hilfsbedürftigen Nachbarin, der Seniorin Aurora (Laura Soveral), die ihre Rente im nächstbesten Casino Lissabons verzockt und ihr farbiges Hausmädchen Santa (Isabel Cadoso) der Hexerei verdächtigt. Nach Auroras Tod sucht Pilar einen ehemaligen Geliebten der alten Dame auf, Ventura (Henrique Espirito Santo), der im Altersheim von der Liebe erzählt, die ihn einst mit Aurora verband. Als junge Frau (Ana Moreira) lebte die in den 50er Jahren mit ihrem Mann (Ivo Müller) auf einem Anwesen in den portugiesischen Kolonien in Afrika, schwelgte im Luxus und genoss ihren Ruhm als treffsichere Jägerin. Als sie Ventura (Carloto Cotta) kennenlernt, stürzt sie sich Hals über Kopf in eine Affäre mit dem feschen Draufgänger. Die Geschichte endet, wie solche Dreiecksgeschichten üblicherweise enden – mit gebrochenen Herzen...
Seiner übersichtlichen Laufzeit zum Trotz erfordert „Tabu" einiges an Sitzfleisch. Erst einmal versandet Gomes' Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale 2012 nämlich in einer Einführung, die dermaßen langsam und anstrengend gerät, dass man beizeiten glaubt, eine Parodie auf beflissen-bedeutungsschwangere Kunstfilme zu erleben. In statischen Einstellungen und tristem Schwarz-weiß wird die kleine Welt der Seniorin eingefangen. Die erzählerische Absicht hinter dieser detaillierten Ausbreitung ihres Alltags bleibt jedoch schleierhaft – mühsam entwickelt sich die schwermütige Gegenwartshandlung vorwärts. Doch dann kommt es doch noch anders und mit Venturas Afrika-Erinnerungen wird der Film interessant.
Plötzlich entwickelt sich das verquaste Arthouse-Stück zum formal verspielten Kolonialismus-Märchen, das die vorigen Längen fast vergessen macht. Noch immer in höchst stilisiertem Schwarz-weiß gehalten, dabei aber mit einer großen Leichtigkeit und einem Mut zur Naivität inszeniert, der sich sowohl im altmodischen und an Wes-Anderson-Tableaus erinnernden Szenenaufbau, als auch in der altväterlichen Erzählung aus dem Off und dem expressiven Spiel der Darsteller ausdrückt. Dieses verklärte Afrika ist das Paradies der Erinnerung, eines, aus dem man nicht vertrieben werden kann. An den Rändern der Verklärung lässt sich jedoch erahnen, dass es dort auch eine fleißig verdrängte und weitaus weniger paradiesische Wirklichkeit gegeben hat.
Die Schilderung des tragischen Liebesdreieckes zwischen Aurora, Ventura und dem gehörnten Gatten begeistert dabei mit gekonnt eingesetzten Stummfilmanwandlungen, die anders als in „The Artist" nicht voll durchgezogen, sondern eher geschickt angeschnitten werden. So hört man die Darsteller im Herzstück des Filmes nicht reden, sondern vernimmt nur die Erzählung des alten Ventura. Das Sounddesign ist nicht minder faszinierend – gedreht wurde stumm, die Umgebungsgeräusche wiederum wurden hochqualitativ neu aufgenommen und dann über die Bilder gelegt. So wird eine Traumatmosphäre erzeugt, der man sich kaum entziehen kann.
Warum sich Gomes nicht auf seine Tugenden beschränken konnte, sondern seiner afrikanischen Rhapsodie auf Teufel komm raus eine so lethargische und im Vergleich konventionelle Einführung voranstellen musste, bleibt dennoch rätselhaft. Für die Aussage seines Films wäre sie nicht zwingend nötig gewesen – sicher, die historische Last des Kolonialismus liegt noch heute schwer auf der Seele des Landes, so wie die verworrenen Liebesdramen auf den Seelen von Aurora und Ventura. Diese Kontextualisierung hätte jedoch weder so lang, noch so vollgestopft mit Alltagstrivialitäten sein müssen – so riskiert Gomes sein Publikum zu verlieren, ehe er zum wirklich interessanten Teil des Films kommt.
Fazit: „Tabu - Eine Geschichte von Liebe und Schuld" ist ein reizvoller, aber uneinheitlicher Film – um zum stilistisch und inhaltlich spannenden Hauptteil durchzudringen, gilt es, die wesentlich weniger inspirierte erste halbe Stunde durchzustehen.