Über viele weltpolitische Skandale der jüngeren Vergangenheit lässt sich ausgiebig streiten. Wie gerechtfertigt war der angeblich so notwendige Kosovo-Krieg wirklich? Welchen offenen Fragen zum Kapitel 9/11 sollte auch über ein Jahrzehnt später noch einmal nachgegangen werden? Hat der deutsche Afghanistan-Einsatz vor allem wirtschaftliche Gründe? Wer nach leichten Antworten und einem klaren Gut/Böse-Schema sucht, kann in einer so komplizierten Welt nur in Sackgassen landen. Eine der wenigen Ausnahmen: Die enorme Brutalität der italienischen Polizei gegen Globalisierungskritiker beim G8-Gipfel im Juli 2001 in Genua ist ganz unmissverständlich eines der erschreckendsten Beispiele für Machtmissbrauch und Menschenverachtung im „zivilisierten" Europa des neuen Jahrtausends. Der Fall ereignete sich wenige Monate vor 9/11 und verschwand schnell aus dem Fokus der Berichterstattung. Ein tatsächlicher Skandal, immerhin trat der noch immer durch die Gemäuer Europas spukende Geist des Faschismus hier ganz offen zutage. Mit „Diaz – Don't Clean Up This Blood" hat Daniele Vicari nun ein forderndes Stück Politkino zum Verbrechen von Genua abgeliefert.
Genua 2001: Nachdem die Polizei bei Unruhen den Demonstranten Carlo Giulian erschossen hat, spitzt sich die Lage zu. Ein militanter Teil der angereisten Globalisierungskritiker – der sogenannte Schwarze Block – randaliert wahllos. Hinter den Kulissen des Polizeiapparates nimmt man die Vorfälle zum Vorwand, endgültig mit den verhassten Autonomen abzurechnen und ein Exempel zu statuieren. Mit einer Hundertschaft wird die zur Schlafstelle für Demonstranten umfunktionierte Diaz-Schule gestürmt und brutal geräumt. Wer bei der Razzia noch nicht krankenhausreif geschlagen wurde, wird in die Polizeikaserne Bolzaneto gebracht und dort gefoltert. Am Ende des langen Leidensweges der Demonstranten steht die Vertuschung der polizeilichen Verfehlungen und der Hohn einer Silvio-Berlusconi-Rede, in der den Opfern selbst die Schuld an ihrem Martyrium gegeben wird...
Inszenatorisch wirkt Daniele Vicaris Genua-Thriller wie aus einem Guss und gemahnt so an die Großtaten Costa-Gavras' („Z"), eines Schutzheiligen des 70er-Politkinos. Besonders sein Klassiker „Der unsichtbare Aufstand" hallt hier nach. Anstatt mit didaktischen Mitteln eine belehrende Botschaft in komplizierten Gleichnissen und trockener Aufmachung zu verkünden, setzt Vicari von Anfang an auf hohes Tempo und eine wirkmächtige, nie aber überästhetisierte Bildsprache. Spielszenen werden mit Dokumentaraufnahmen gemischt, ohne dass es zu spürbaren Brüchen im Erzählfluss kommt – „Diaz" bleibt jederzeit übersichtlich und mitreißend. Dafür sorgt auch der hervorragende Schnitt, mit dem ganz unterschiedliches Filmmaterial sauber zusammengehalten wird - und das bei einer so episodisch-assoziativen und nicht chronologischen Erzählweise.
Spannend ist bereits, wie die Akteure aller Seiten – autonomes Zentrum (u.a. Jennifer Ulrich), schwarzer Block, angereister Journalist (Elio Germano), ein Rentner auf der Suche nach seiner Enkelin und die Täter auf Seiten der Polizei (u.a. Mircea Caraman) – im Verlauf der ersten Filmhälfte wie Schachfiguren positioniert werden. Mit dem Vorwissen um die kommenden Geschehnisse hört ein informiertes Publikum hier längst die Bombe ticken. Und sie explodiert auf erschütternde Art und Weise. Die zweite Hälfte ist eine schwer erträgliche Kakophonie aus Schreien, Erniedrigungen und dumpfen Knüppelschlägen; eine, bei deren Berlinale-Aufführung so mancher Zuschauer den Saal verlassen hat.
Beschönigt wird nichts, zum Folterporno verkommt „Diaz" dabei aber wohlbemerkt nie. Nach einer halben Stunde Dauerbeschuss gönnt Vicari seinem Publikum eine kurze Verschnaufpause, bevor er sich den grausigen Geschehnissen in der Bolzaneto-Kaserne widmet. Der dort herrschende Horror mag manchem Betrachter übertrieben scheinen – wer jedoch ein wenig über den Tatbestand unterrichtet ist und etwa die sehr gelungene WDR-Dokumentation „Gipfelstürmer" gesehen hat, weiß, dass selbst diese Szenen eher geschönt als übertrieben ausfallen. Die Darstellung des nackten, staatstragenden Terrors stellt in ihrer Wirkung viele Horrorfilme in den Schatten und lässt ihr Publikum verstört und sprachlos zurück.
Bei einem solch brisanten Fallbeispiel, bei dem richtig und falsch absolut indiskutabel sind, ist derweil auch klar: Wer sich wie Vicari darum bemüht, ein naturalistisches Bild dieses Schreckens zu schaffen, betreibt dabei immer auch eine Manipulation des Publikums, die weit über die übliche Illusionsmagie des Kinos hinausreicht. Tatsächlich ist „Diaz" kaum erträglich, ohne latent bis offen aggressiv zu machen – die Darstellung dieses obszönen Unrechts macht Hände zu Fäusten. „Diaz" ist ein gänzlich unmittelbarer Film, der sich nicht so leicht verdauen und vergessen lässt, der vielmehr eine Aufarbeitung und eine Diskussionen seiner Wirkung und seiner Machart einfordert.
Darf eine solche Geschichte so nervenaufreibend und gewissermaßen aufwieglerisch inszeniert werden, oder handelt es sich dabei bereits um Gegen-Propaganda? Auch wenn an einigen Stellen immer wieder Pathos-Grenzen gestreift werden, sollte man sich dieser cineastischen Gratwanderung aussetzen und selbst entsprechende Gedanken anstellen. Im Gegensatz zu so manch betulichem US-Politdrama, das großes Politkino sein soll, mit dem aber doch nur offene Türen eingerannt werden, ist „Diaz" in Inhalt und Aufbereitung wirklich streitbares politisches Kino, das nach Standpunkten verlangt.
Fazit: Daniele Vicaris „Diaz – Don't Clean Up This Blood" ist eine aufwühlende und aufregende Filmerfahrung, die man so schnell nicht vergisst.