Immer enger zog Luchino Visconti (1906-1976) von Film zu Film die Räume, in denen sich seine einsamen, verlassenen Figuren zwischen den Umbrüchen des 19. und 20. Jahrhunderts bewegen. Waren es in „Die Erde bebt“ 1948 die Fischer eines sizilianischen Dorfes – sozusagen am Rande der Welt –, die vom hereinbrechenden Kapitalismus überwältigt wurden und deren Widerstand einen der ihren nahe an die Existenzvernichtung brachte, bevor er sich und seine Familie der neuen Zeit regelrecht unterwarf, ist es in der so genannten „deutschen Trilogie“ – „Die Verdammten“ (1969), „Der Tod in Venedig“ (1971) und „Ludwig II.“ (1973) – der enge Zusammenhang von Politik und Ästhetik, der die Individuen in den Untergang treibt.
Das Inferno, die Götterdämmerung treibt der Regisseur hier so weit voran, dass man ihm vorwarf, er schwimme mit diesen Filmen auf der Welle der Faszination für eine Epoche, die im Nationalsozialismus ihren grauenhaften Höhepunkt fand. Ästhetik wird hier zum Selbstzweck, zur Form, zur Hülle einer Zeit stilisiert, in der sich das Ästhetische immer mehr der Politik bemächtigt, bis es im Faschismus seine ihm eigene Ideologie findet, die nur noch in der Zerstörung und massenhaften, bürokratisch organisierten Vernichtung menschlichen Lebens ihre Sinnstiftung findet. Die Räume, in denen sich das gepeinigte und peinigende Individuum bewegt, werden enger, die Folgen dieses maßlosen und anmaßenden Selbstbezugs aber verändern sich merklich in quantitativer wie qualitativer Hinsicht. Der Holocaust erscheint in dieser Sichtweise eben auch als die zur Vervollkommnung geratende Ästhetisierung des Politischen, das auf immer weniger zum „Willen“ und zur „Tat“ bereite Individuen zentralisiert und der Gesellschaft entzogen wird, die nur noch aus „Gefolgschaft“ oder „Auszumerzenden“ besteht.
„Ludwig“ ist gewissermaßen der krönende Abschluss im Werk des italienischen Regisseurs, obwohl bis zu seinem Tod mit „Gewalt und Leidenschaft“ (1974) und „Die Unschuld“ (1976) noch zwei Filme folgen sollten, bei deren Inszenierung Visconti schon von seiner schweren Krankheit gezeichnet war.
Schon Ludwig II. befindet sich in Viscontis Darstellung an der Schwelle vom „althergebrachten“ Herrscher zur Charaktermaske in einem immer enger werdenden Bewußtseins- und Lebensraum. Die Selbstzerstörung des Herrschers wird zum Ausdruck einer Zeit, in der der Todeskampf der alten Ordnung an der Schwelle zum imperialen, großdeutschen, ausgreifenden Reich in Ludwig sein offensichtlichstes Opfer findet.
Visconti spannt seinen „Ludwig“ über eine Zeit von mehr als 20 Jahren von der Krönung bis 1886. Im Vordergrund stehen zum einen die Beziehung des Königs (Helmut Berger) zu Richard Wagner (Trevor Howard), zum anderen zur österreichischen Königin Elisabeth (Romy Schneider). Zu beiden verbindet Ludwig eine fanatische, fernab von Realitätssinn geprägte Leidenschaft. Wagner ist für Ludwig der Inbegriff des kulturell Schönen, Elisabeth des natürlich Schönen. Weder Wagner, den Ludwig nach Bayern zurückholt (der Komponist war vor seinen Gläubigern geflohen), noch Elisabeth sind für den König Menschen, die etwas ausdrücken, sondern Verkörperungen des abstrakt Ausgedrückten selbst. Schönheit, Ästhetik verändern sich schon bei Ludwig zum Selbstzweck und je weiter sich der Herrscher, der bis zu seinem Tod immer weniger wirklich herrscht, von den realen Personen emotional entfernt, desto vergeistigter wird seine Beziehung zu den beiden wichtigsten Personen in seinem Leben selbst.
Um den in sich durch und durch gefühlten Verfall seiner Epoche abzuwenden oder zumindest aufzuhalten, sucht Ludwig in der Musik Wagners und der Anbetung der österreichischen Regentin Reinigung und eigene Erlösung. Doch von Wagner, der bei Visconti nicht gut wegkommt (verschuldet, hintertrieben, er nutzt Ludwig aus, in Kooperation mit seiner Geliebten Cosima von Bülow, deren Ehe mit Hans von Bülow nur noch auf dem Papier Gültigkeit hat), aber eben auf seine Weise Realist ist, und von Elisabeth, die die zunehmende Entfernung und Entfremdung Ludwigs von seiner Umgebung und von seiner Position exakt und seine Liebe zu ihr als Ausdruck von Künstlichem erkennt, trennt den Herrscher seine zunehmende Vergeistigung. Als sein Bruder Prinz Otto (John Moulder-Brown) an einer Geisteskrankheit zu leiden beginnt, an der er Jahre später stirbt, befürchtet der König auch für sich den Verfall in die Umnachtung.
Was ihn jedoch wirklich zerstört, ist nicht eine Krankheit im üblichen Sinn. Für die Staatsangelegenheiten interessiert er sich ebensowenig wie für den Krieg. Sein Vertrauter Graf Dürckheim (Helmut Griem), der den König in über die Grenzen des an sich Erlaubten hinaus mit der Realität und seiner Aufgabe als Herrscher konfrontiert, muss ebenfalls erkennen, dass Ludwig bereits in einer anderen Welt lebt, in der es ihm auch nicht möglich ist, ein Eheversprechen gegenüber der Schwester Elisabeths, Sophie (Sonia Petrova), einzulösen.
Das Asexuelle Ludwigs in bezug Frauen, die er höchstens bewundert, verehrt oder, wie Elisabeth, vergöttert, die er aber angesichts der Künstlichkeit und Transzendenz seines Verhältnisses zu ihnen nie liebevoll berühren würde, geschweige denn, dass er mit ihnen schlafen könnte, treibt ihn in die Arme von Männern, etwa die seines Kammerdieners Hornig (Marc Porel). Im eigentlichen Sinn ist dies keine Homosexualität, sondern die Flucht in den Verfall. Bei Ludwig fällt das Natürliche und das Künstliche als etwas Unvereinbares, ja Gegensätzliches auseinander. Es klafft ein Abgrund, analog der Unvereinbarkeit von Ästhetik und Wirklichkeit.
Diese transzendentale Zuspitzung in seinem Leben führt den König immer weiter in die Isolation. Sein Raum zieht sich immer enger auf sich selbst zurück. Die „Märchenschlösser“ wie Neu-Schwanstein oder Herrenchiemsee haben weniger etwas mit Märchen zu tun, als dass sie der verzweifelte Versuch, der letzte „Rettungsanker“ für Ludwig zu sein scheinen, um dem eigenen körperlichen wie seelischen Verfall zu entkommen, Schlösser, in denen er den eigenen enger werdenden (Lebens-)Raum zu weiten versucht – vergeblich.
Ludwigs Absetzung durch die eigene Regierung ist nur der letzte Schlussstrich unter diese Entwicklung. Das seelische Delirium und das Quälende, Zerplatzende der eigenen Situation schnüren alles zu, was an Leben noch in ihm steckt.
Ludwigs von Mythen umwobener Tod im Starnberger See ist – im Leben des Königs wie in Viscontis Film – logische Folge eines fehlgeschlagenen Versuchs, dem Todeskampf der eigenen Epoche zu entkommen. Man fand seine Leiche und die des Leibarztes Prof. Gudden (Heinz Moog), ohne dass die Todesursache geklärt worden wäre. Mord? Selbstmord? Unfall wohl kaum.
Viscontis Eintauchen in diese immer enger werdende Welt hat etwas Faszinierendes, etwas Ästhetisches und Erschreckendes zugleich. Es ist jedoch weniger ein Akt der Bewunderung, der eigenen Sympathie für die Agonies eines Zeitalters, die „Ludwig“ oder auch die beiden anderen Teile der Trilogie kennzeichnen, sondern eher die ganze Last der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, die im übrigen – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht – auf uns allen liegt, die das Anziehende einer solchen Visualisierung des fragilen Pomps bewirkt.
Helmut Berger verkörpert diesen Ludwig „wie aus einem Guss“, scheint geboren für diese Rolle eines Königs, demgegenüber man Verachtung wie Mitgefühl entgegenbringen kann.