Amerika ist groß und weit – England dagegen bloß felsig und verregnet. Auf der Insel ist das Roadmovie-Genre weiß Gott nicht geboren worden und auch die Odysseen mordender Killerpärchen finden - jedenfalls im Kino - eher selten hier ihren Anfang. Nach seinem viel gepriesenen Auftragsmörder-Mystery-Thriller „Kill List" konzentriert sich Regisseur Ben Wheatley in „Sightseers" auf den Horror, der aus vorgeblicher Normalität und aus dem Alltagsspießertum erwächst. Dass er diesen Horror zeigt, bedeutet hier allerdings nicht, dass er sich auch ergiebig mit ihm auseinandersetzt – was sein wild durchs Land mordendes Protagonisten-Pärchen dazu getrieben hat, diesen dunklen Pfad einzuschlagen, darüber kann auch am Ende des Films nur spekuliert werden. In seinen besten Momenten ist „Sightseers" ein seltsam berührendes Mosaik der asozialen Liebe mit einer deftigen Prise schwarzen Humors, über weite Strecken aber bleibt einfach zu vage, worauf Wheatley mit seiner blutrünstigen Erzählung eigentlich hinauswill.
Beim ersten Mal könnte es noch ein Unfall gewesen sein. Doch schon der eigentümlich selbstzufriedene Ausdruck in Chris‘ (Steve Oram) Gesicht, nachdem er beim Zurücksetzen einen unfreundlichen Umweltverschmutzer über den Haufen gefahren hat, gibt eine Vorahnung dessen, was da noch kommen wird. Tina (Alice Lowe) ist mit Chris auf Wohnwagen-Tour durch England, für beide ist es mit Mitte 30 die erste richtige Beziehung. Chris möchte ein Buch schreiben, Tina soll seine Muse sein – ein Idyll! Lässt man sich das zerstören von pöbelnden Mittouristen, die möchten, dass man hinter (gestohlenen) Hunden herputzt? Oder von einem Campingplatz-Nachbarn, der es tatsächlich schon geschafft hat, ein Buch zu schreiben, drei sogar, und der einen noch tolleren Caravan fährt als man selber, dieser Angeber? Natürlich nicht!
Die beiden Hauptdarsteller haben sich ihre Rollen selbst auf den Leib geschrieben und es ist in weiten Teilen ihr Verdienst, dass man dem Eröffnungsfilm des Fantasy Filmfests 2012 auch durch seine haarsträubenderen Wendungen folgen mag. Alice Lowe („Hot Fuzz") verleiht ihrer überbehüteten Tina durch alles Unheil hinweg eine anrührend offene, naive Anmutung und Steve Oram lässt hinter seinem veritablen roten Vollbart immer noch den gehänselten, schüchternen Chris von damals hervorscheinen. Wenn Tina dann zum Kindmonster wird, lässt sie ihre archaischen Gefühle allerdings so richtig raus und auch Chris ist eine tickende Zeitbombe – obgleich seine Klage an die Gefährtin, die gerade zum Spaß einen Jogger überfährt, noch trügerisch normal klingt: „Ich brauche Struktur. Das hier ist Chaos!" Erst dann gesteht er, vor einem halben Jahr gefeuert worden zu sein.
Doch sobald die Autoren eine Erklärung für den Gewaltausbruch geliefert haben, entziehen sie ihr auch schon wieder den Boden. So muss die Enge des bürgerlichen Elternhauses, in dem Fotos vom verstorbenen Familienhund die Wände pflastern und die Mutter Tina immer noch die Schuld für den Tod des Tiers gibt, einerseits mit aller Macht überwunden werden. Doch dann wird andererseits genau dieser Lebensentwurf von den Protagonisten genauso nachdrücklich verteidigt: Mal sind die Dreckspatze selbst schuld an ihrem Tod, mal die überkorrekten Sauberkeitsfanatiker. Tina und Chris haben einander gefunden und kämpfen für ihre Liebe, der Schmerz, den sie sich dabei auch gegenseitig zufügen, wird nach außen gekehrt. Neid spielt eine Rolle. Eifersucht. Begierde. Aber die komplizierte und widersprüchliche Gemengelage von Motivationen und Emotionen ist irgendwann nicht mehr produktiv irritierend oder mehrdeutig, sondern erscheint bloß noch beliebig.
Dass bei einer solchen Geschichte bestimmte Assoziationen unvermeidlich sind, erklärt sich von selbst: Viele Kritiker verglichen „Sightseers" mit Oliver Stones überbordendem „Natural Born Killers", ebenso aber erinnert Wheatleys Film an stringentere Erzählungen wie „Bonnie und Clyde" oder Terrence Malicks „Badlands". Diesen übergroßen Vorbildern, diesen Bilderbögen der Weitläufigkeit, wird hier jedoch das Prinzip der Enge entgegengesetzt: im Vorstadthaus, im verplüschten Wohnwagen, zwischen zerklüfteten Felsen. Wheatley hat die reizvollen Gesteinsformationen der englischen Mittelgebirge zur pittoresken Mordkulisse erhoben – die Abhänge mögen tief genug sein, um jemanden in den Tod zu stürzen, aber für ein wirklich involvierendes Roadmovie fehlt die erzählerische und thematische Klarheit.
Fazit: „Sightseers" wirkt in zu vielen Belangen beliebig, insbesondere eine klare Perspektive auf das mörderische Treiben der Figuren fehlt. So ist es trotz aller starken Momente schon eine arge Gedulds- und Nervenprobe, dem Mörderpärchen durch seine bizarre Odyssee zu folgen.