Mit nur zwei Filmen hat sich der britische Fotograf und Video-Installationskünstler Steve McQueen als Regisseur mit ausgeprägt individueller Handschrift in der Kinolandschaft etabliert. Nach dem herausragenden IRA-Gefängnis-Drama „Hunger“ und der umstrittenen Sexsucht-Geschichte „Shame“ drückt er nun auch dem Sklaverei-Drama „12 Years A Slave“ seinen persönlichen Stempel auf. Insbesondere mit seinen typischen ausgedehnten Plansequenzen, also langen Szenen ohne sichtbare Schnitte, verstärkt er die Wirkung der außerordentlichen Qualen, die seine Hauptfigur und ihre Leidensgenossen durchleben müssen: So wird aus dem auf der wahren Geschichte des in die Sklaverei entführten freien Mannes Solomon Northup basierenden Historien-Drama schwer erträgliche Kost und zugleich große Filmkunst. „12 Years A Slave“ mag härter sein als mancher Horrorfilm, aber gerade das erweist sich als eine besondere Stärke: Der ungeschönte Blick in die Untiefen der amerikanischen Geschichte zwingt den Betrachter geradezu dazu, sich mit den gerade in Hollywood gerne vernachlässigten Themen Sklaverei und Unterdrückung auseinanderzusetzen. Nicht umsonst ist „12 Years A Slave“ einer der ganz großen Favoriten für die Oscar-Verleihung 2014 – er wäre auf jeden Fall ein würdiger Sieger.
Der mit seiner Familie in New York in Freiheit lebende schwarze Violinist Solomon Northup (Chiwetel Ejiofor) wird 1841 von zwei windigen Verbrechern (Scoot McNairy/Taran Killam) durch eine List nach Washington gelockt und findet sich dort nach einer durchzechten Nacht als angeblicher Sklave Platt in Ketten wieder. Seine Beteuerungen, dass er ein freier Mann sei, bringen ihm nur Schläge ein. Beweisen kann er es ohnehin nicht, da seine Papiere allesamt weg sind. Per Boot wird er in den Süden geschmuggelt, wo ihn Sklavenhändler Freeman (Paul Giamatti) an den Plantagenbesitzer Ford (Benedict Cumberbatch) verkauft. Der nutzt Solomons außergewöhnliche Talente zu seinem Vorteil und gewährt ihm im Gegenzug ein paar Freiheiten, gibt ihn aber nach einer Auseinandersetzung mit dem sadistischen Vorarbeiter Tibeats (Paul Dano) an den berüchtigt-brutalen Edwin Epps (Michael Fassbender) weiter. Auf dessen Baumwollplantage beginnt für den verschleppten Musiker ein noch viel schlimmeres Martyrium. Während Jahr um Jahr vergeht, schwindet Solomons Hoffnung, seine Frau und seine Kinder noch einmal wiederzusehen…
Wenn Solomon seinen Leidensweg im finalen Filmdrittel dem kanadischen Wanderarbeiter und Abolitionisten Bass (Brad Pitt) schildert, bezeichnet dieser ihn umgehend als „außergewöhnlich“, um gleich zu ergänzen „im negativen Sinne“. Die tatsächlich in höchstem Maße bemerkenswerte Geschichte ist überdies wahr: Im Jahr 1853 veröffentlichte Solomon Northup ein Buch über seine Erlebnisse und erzählt, wie er als freier Mann aus dem Norden als Sklave im Süden landete und ein zwölfjähriges Martyrium durchlitt, bevor er seine wahre Identität beweisen konnte. Obwohl die Entführung freier Bürger und ihre Verschleppung als Sklaven durchaus an der Tagesordnung war, ist Northups Bericht eine der wenigen ausführlichen Quellen über ein Sklavenschicksal aus erster Hand. Regisseur McQueen und sein Autor John Ridley („Three Kings“, „Red Tails“) wussten, was sie an dieser unglaublichen Geschichte haben. Sie nutzen sie, um ein grelles Schlaglicht auf eines der finstersten Kapitel der amerikanischen Geschichte zu werfen und machen „12 Years A Slave“ zu einer furiosen Anklage gegen Sklaverei, Ausbeutung und Rassismus. Der körperliche und vor allem der seelische Schmerz von Solomon Northup werden für den Zuschauer fast schon körperlich spürbar, umso bewegender ist dann das zu Tränen rührende Finale – ein Schlusspunkt, dem zugleich die Trauer und die Wut über das oft noch viel tragischere Schicksal von Millionen Sklaven eingeschrieben ist.
Steve McQueen beschönigt nichts und setzt sein Publikum schonungslos der Brutalität der Sklavenhalter aus. Er zwingt den Betrachter in schier endlosen Foltersequenzen zuzusehen, wie Menschen geschunden, Widerstände gebrochen und Leben ausgelöscht werden. Die Unentrinnbarkeit der Gewalt wird durch die langen und meist starren Einstellungen in diesen Szenen noch unterstrichen. Als der frisch versklavte Solomon das Sprechen über seine Herkunft als freier Mann ausgeprügelt bekommt, verharrt die Kamera gerade so weit in der Halbdistanz, dass man den ganzen Körper des auf allen vieren auf dem Boden knienden Protagonisten sieht, auf den ein Hieb nach dem anderen einprasselt. Diese Plansequenzen von McQueens Stammkameramann Sean Bobbitt („The Place Beyond the Pines“, „Oldboy“) sind ebenso unerbittlich wie wohlüberlegt. Das zeigt sich besonders in einer Szene, in der Epps Solomon zwingt, die Sklavin Patsey (Lupita Nyong'o) auszupeitschen. Hier bekommt das gewaltsame Geschehen durch kleine Schwenks auf die Gesichter des Sklaventreibers und seines Opfers, das er zum Täter macht, eine zusätzliche Dynamik. Bis zum abschließenden Blick auf den Rücken der jungen Sklavin, aus dem die Peitsche Schlag für Schlag fetzenweise das Fleisch reißt, steigert sich die Intensität in Schüben bis zur Unerträglichkeit.
Steve McQueen setzt mit seiner Inszenierung deutliche Ausrufezeichen, ebenso wie die diesmal weniger bombastisch instrumentierte, aber dennoch aufwühlende Musik von Komponistenlegende Hans Zimmer („Inception“). „12 Years A Slave“ ist kein subtiler Film, sondern ein von tief empfundenem Mitgefühl und ehrlicher Empörung geprägtes Kino-Mahnmal. Wenn Solomon nach einem Konflikt mit einem Aufseher an einem Baum aufgeknüpft darum kämpft, den lebenswichtigen Bodenkontakt mit den Füßen zu halten, zeigt McQueen uns ausführlich wie die übrigen Sklaven dies ignorieren und im Hintergrund scheinbar gleichgültig ihr Tagewerk verrichten: Hier kämpft jeder für sich selbst und um sein eigenes Überleben. Und aus den Augen der jungen Sklavin, die sich schließlich erbarmt, dem Aufgeknüpften einen Schluck Wasser zu reichen, spricht die nackte Panik, dass sie dafür bestraft werden könnte. So geht es dann längst nicht nur um Solomon, sondern um das ganze System von Ausbeutung und Unterdrückung, das durch kurze Seitenblicke auf ganz verschiedene Einzelschicksale fassbar gemacht wird. Vom aufbegehrenden Kämpfer, der mit dem Leben bezahlt („The Wire“-Star Michael K. Williams), über eine Mutter (Adepero Oduye), die mitansehen muss, wie ihre Kinder verkauft werden bis zur Frau (Alfre Woodard), die ihren früheren Master geheiratet hat und ein Leben in Wohlstand führt – schon aus kleinen Skizzen entsteht ein vielsagendes Bild.
Die gleichsam nebenbei erzählten Miniaturen, zu denen auch der Auftritt von Superstar und Produzent Brad Pitt als Sklaverei-Gegner gehört, geben „12 Years A Slave“ eine zusätzliche Dimension, im Mittelpunkt steht aber stets die Geschichte von Solomon und damit der großartige Chiwetel Ejiofor („Salt“), der in jeder Szene zu sehen ist - selbst eine Sexszene zwischen Sklavenhalter Epps und Patsey beginnt mit einem Kameraschwenk über den schlafenden Solomon. Da der seine Gefühle und Gedanken im Fortlauf des Films immer seltener offen artikuliert, bleibt es Ejiofors Minenspiel überlassen, diese zu verdeutlichen. So bringt er etwa mit wenigen Blicken zum Ausdruck, dass Solomon gerade über eine Flucht nachdenkt, die Idee aber wieder verwirft. Ejiofor hat mit deutlichem Abstand die umfangreichste Rolle, aber wie bei vielen Historienfilmen mit Oscarambitionen gibt es auch in „12 Years A Slave“ eine große Besetzung und ein Stelldichein prominenter Schauspieler - selbst in kleinsten Rollen sind bekannte Gesichter zu sehen, was dazu führt, dass etwa die „Beasts Of The Southern Wild“-Entdeckung Quvenzhané Wallis nur einen besseren Statistenauftritt hat. Das Promi-Schaulaufen lenkt dennoch zu keinem Zeitpunkt von der Geschichte ab.
Den neben Ejiofor nachhaltigsten Eindruck macht die Neuentdeckung und Kinodebütantin Lupita Nyong'o („Non-Stop“), die sich beim Casting angeblich gegen mehr als 1.000 Konkurrentinnen durchgesetzt hat. Als junge Sklavin Patsey übertrifft sie mit ihrer harten Arbeit auf den Feldern die meisten Männer deutlich, zusätzlich versucht sie durch sexuelle Gefälligkeiten eine Sonderstellung beim sadistischen Epps zu erlangen – sehr zum Missfallen von dessen Frau (Sarah Paulson). Patsey ist eine durchaus undurchsichtige Figur, aber die herausragende Nyong'o sorgt dafür, dass das Publikum mit ihr ähnlich stark mitfiebert wie mit Solomon. Zur wahren Hassfigur wird dagegen der sadistische Sklaventreiber Epps, der sich auch mal einen Spaß daraus macht, sein nach harter Feldarbeit müdes menschliches Eigentum nachts noch zum Tanzen zu zwingen. Allein wegen der Masse an Szenen hinterlässt McQueen-Stammdarsteller Michael Fassbender („Prometheus“) in diesem lupenreinen Schurkenpart von den prominenten Nebendarstellern den stärksten Eindruck. Schlussendlich noch perfider als Fassbenders Epps ist der von Benedict Cumberbatch („Sherlock“) gespielte Ford. Der geriert sich als Humanist, er hält Gottesdienste für seine Sklaven ab und schenkt Solomon eine Geige. Doch in Wirklichkeit ist er ein Opportunist, der die Vorzüge der Sklaverei genauso wie alle anderen zu seinem Vorteil nutzt. Er belügt sich selbst, wenn er sich einredet, nur aus wirtschaftlichem Druck so zu handeln oder wenn er behauptet, Solomon mit dem Verkauf an Epps letztlich das Leben zu retten.
Fazit: Er wolle leben, nicht bloß überleben – das erwidert der in die Sklaverei entführte Protagonist Solomon auf den Ratschlag eines Mitgefangenen, doch in Steve McQueens herausragendem „12 Years A Slave“ wird schnell klar, dass es in Wahrheit nur noch ums Überleben geht. Das oscarwürdige Historien-Drama ist dabei ebenso aufwühlend wie kompromisslos.