An politischem Kino war die deutsche Autorenfilmerlegende Werner Herzog ausdrücklich nie interessiert. Das hat seine Kritiker freilich nicht davon abgehalten, seine Filme politisch zu lesen. Der dabei zentrale Vorwurf: Herzog schlage ästhetisches Kapital aus den Schrecken von Unterdrückung, Krieg und Tod. So ließ er etwa in der Outlaw-Ballade „Cobra Verde" Klaus Kinski als Sklaventreiber durch Schwarzafrika wüten, ohne den Opfern des historischen Verbrechens Gehör zu verschaffen. Und so zeigte er im Essayfilm „Lektionen in Finsternis" die brennenden Ölfelder Kuwaits als berauschende Endzeit-Landschaft, ohne dabei ein Wort über die Hintergründe der Krise zu verlieren. Auch Hitlers Lieblingsregisseurin Leni Riefenstahl hätte behauptet, nie politische Filme gedreht zu haben, so die schäumende deutsche Kritik Ende der 80er. Diese Tage wird Herzog wieder wohlgesonnener gelesen. Wie politisch seine Filme nun zu deuten seien bleibt jedoch eine streitbare Frage. Kein Wunder bei seinem neuesten Film „Tod in Texas". Wie unpolitisch kann eine Dokumentation über die US-amerikanische Todesstrafen-Praxis schon sein? Ganz und gar, wenn man Herzog folgen will: Der im Original passender mit „Into The Abyss" betitelte Film soll eine Annäherung an ein universelles Thema sein, an unseren Umgang mit dem Unausweichlichen. Dabei ist dem Regisseur ein Doku-Kunststück gelungen – ein Film über den Tod, der eigentlich eine euphorisierende Hymne auf das Leben ist.
Conroe, Texas, Oktober 2001: Michael Perry und Jason Burkett wollen ein Auto stehlen, nur so zum Fahrvergnügen. Als sie vom Besitzer aufgescheucht werden, eskaliert die Situation. Drei Menschen sterben, die beiden jungen Täter werden festgenommen. Perry wird zum Tode, Burkett als Komplize zu lebenslanger Haft verurteilt. Acht Jahre später, eine Woche vor seinem Hinrichtungstermin, erklärt sich Perry bereit, Herzog ein Interview zu geben. Um dieses Gespräch herum gruppiert der Regisseur weitere Dialoge mit all den Menschen, die unmittelbar in die schlimme Geschichte involviert waren und sind: Die Hinterbliebenen kommen ebenso zu Wort wie der damals ermittelnde Polizist Damon Hall, der Todestrakt-Reverend Richard Lopez und der Exekutor Fred Allen. Dabei wird der Verlauf des Verbrechens nachvollzogen, vor allem aber geht es in den Gesprächen um Todesbegegnungen und die damit verbundenen Empfindungen...
„Tod in Texas" ist kein typischer Herzog – und ist es wiederum doch. Die überlebensgroßen Figuren und erhaben-rätselhaften Landschaften, die sein Spielfilm- und Doku-Werk prägen, spielen hier keine Rolle. Auffällig ist auch, wie sehr sich der Autorenfilmer selbst im Hintergrund hält. Anders als sonst in seinen Dokus ist er nicht vor der Kamera zu sehen, sondern nur als Interviewer zu hören. Auf den poetischen Off-Text, eines seiner Markenzeichen, hat er weise verzichtet, um die Erzählungen seiner Interview-Partner nicht zu überschatten. Und doch ist „Tod in Texas" unverkennbar Herzog. Weder werden die Täter dämonisiert, noch werden sie verharmlost. Weder wird sich mit den Hinterbliebenen solidarisiert, noch werden ihre Rachephantasien angeprangert. Dem schweren Thema zum Trotz ist „Tod in Texas" zudem feinsinnig humorvoll: Gleich in der ersten Szene soll Reverend Lopez vor einer Friedhofskulisse von seinen Golfplatz-Begegnungen mit Eichhörnchen berichten. Fast, so der Sterbebegleiter, plötzlich den Tränen nahe, hätte er einmal eines der Tierchen überfahren – und so ist die Würde des Lebens als Hauptmotiv des Films etabliert, bevor der Kriminalfall überhaupt vorgestellt wird.
Die Würde des Lebens, das bedeutet auch: die Würde des Täters. Konsequent eröffnet der Regisseur das Todestrakt-Interview mit einer Klarstellung. Dass Herzog mit Perry sprechen wolle, bedeute keineswegs, dass er ihn persönlich möge. Wohl aber sei der Todeskandidat ein menschliches Lebewesen und niemand hätte das Recht, ihm das zu nehmen. Sympathisch kommt der sanft sprechende Jüngling tatsächlich nicht rüber, der da im Angesicht des Todes scheinbar reuelos noch naive Märchen spinnt. Er sei ja unschuldig, müsse nun aber in Kauf nehmen, bald abzutreten. Reines Pech! Herzog solle aufpassen, das gleiche Schicksal könne jedem widerfahren: „Lebe jede Minute. Du könntest jederzeit verhaftet werden!". Herzog lässt die blödsinnige Aussage unkommentiert – Perrys Wunschselbstbild und damit die seelischen Bedingungen seines baldigen Todes sollen ihm selbst überlassen bleiben. Retten kann und will Herzog ihn nicht, wohl ihm aber seine Würde als Lebewesen zugestehen.
Der Regisseur macht dabei aber keinen Hehl daraus, dass er ein Gegner dieser Strafpraxis ist: „Todesstrafe klingt mir zu sehr nach altem Testament, nach Gottes Zorn." Also doch ein Plädoyer und damit ein politischer Film? Das bleibt eine Frage der Perspektive – immerhin spricht sich eine Hinterbliebene nach der Hinrichtung Perrys ausdrücklich für die Todesstrafe aus. Ja, sein Tod hätte ihr gut getan. Auch das lässt Herzog unkommentiert. Seiner Logik zufolge ist die Todesstrafe kein politisches sondern ein philosophisches Problem. Den Hinrichtungssaal inszeniert er wie einen mystischen Übergangsraum zwischen den Welten des Lebens und des Todes, wie etwas, das gebaut aber nicht verstanden wurde. Sinnbildlich gesprochen werden wir alle irgendwann durch diesen Raum schreiten. Doch bevor es soweit ist, gilt es, das Wunder des Lebens als solches zu erkennen. Wunderschön beschließt Herzog „Tod in Texas" dann auch mit einer Erzählung des Exekutors Allen, der nach über 100 Hinrichtungen plötzlich zusammenbrach, kündigte und eine Erleuchtung erlebte: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich all die Vögel vor meinem Fenster bewusst wahrgenommen. So viel Leben! So viel davon!"
Fazit: Sensibel aber nicht sentimental, schwerwiegend aber nicht deprimierend, kritisch aber nie urteilend – Werner Herzogs „Tod in Texas" ist ein ein außergewöhnlicher Film-Essay über eines der ältesten Menschheitsthemen überhaupt: Wie gehen wir mit der Unausweichlichkeit des Todes um und welche Schlüsse ziehen wir daraus über das Leben?