Manchmal reicht für eine talentierte Jungschauspielerin schon ein einziger Film, um die Tür zum Filmgeschäft weit aufzustoßen. Ob Natalie Portmans Karriere ähnlich steil verlaufen wäre, wenn sie nicht die kleine Mathilda an der Seite von „Leon – Der Profi" gespielt hätte? Wäre Jodie Foster auch ohne ihren Auftritt als minderjährige Prostituierte in Martin Scorseses „Taxi Driver" später in „Das Schweigen der Lämmer" zu sehen gewesen? Man darf getrost Zweifel anmelden. Welchen Weg die Karriere von Eloïse Laurence, unumstrittener Star in Rufus Norris‘ starkem Erstlingswerk „Broken", nehmen wird, fällt noch ins Reich der Spekulation und hängt wohl auch vom internationalen Erfolg der britischen Produktion ab. Eines ist aber sicher: Laurence drückt dem glänzend inszenierten und ungemein intensiven Familiendrama, das auf dem Filmfestival in Zürich als bester internationaler Spielfilm ausgezeichnet wurde, in eindrucksvoller Manier ihren Stempel auf und stiehlt ihren prominenten Kollegen vor der Kamera glatt die Show.
Die kleine Skunk (Eloïse Laurence) lebt gemeinsam mit ihrem Vater Archie (Tim Roth) und dem Au-pair-Mädchen Kasia (Zana Marjanovic) in einem Einfamilienhaus in einem Londoner Vorort. Das aufgeweckte Kind wächst ohne Mutter auf und leidet seit seiner Geburt an schwerer Diabetes, hat sich aber mit den Jahren daran gewöhnt, ständig den Blutzuckerwert überprüfen und auf all die Süßigkeiten, die seine Klassenkameraden in sich reinstopfen, verzichten zu müssen. Eine spezielle Freundschaft verbindet Skunk mit dem geistig zurückgebliebenen Rick (Robert Emms), der im Haus gegenüber wohnt und von den drei Töchtern des aufbrausenden Bob Oswald (Rory Kinnear) gehänselt wird. Als Rick eines Tages von Bob brutal zusammengeschlagen wird, gerät Skunks kleiner Kosmos aus den Fugen: Ihr Freund von der anderen Straßenseite wird in eine Klinik abgeschoben, Kasia trennt sich von Skunks Lieblingslehrer Mike Kiernan (Cillian Murphy), und ihr Vater beachtet sie kaum noch. Ihre Kindheit droht unter den Problemen der Erwachsenen zu zerbrechen...
Drehbuchautor Mark O'Rowe („Kopfgeld – Perrier's Bounty") bedient sich bei der Adaption von Daniel Clays erfolgreichem Roman eines einfachen, aber effektiven Kniffs: Er lässt seine Geschichte häufig zwei Schritte nach vorn springen, um dann nochmal einen zurückzugehen und die Erklärung nachzureichen, wie es zu einem wichtigen Knotenpunkt der Handlung überhaupt kommen konnte. Zum ersten Mal findet diese Technik in der Einleitung Anwendung, in der Bob den hilflosen Rick brutal vermöbelt. Die Gründe für den Übergriff erfährt der Zuschauer zunächst nicht, lassen die Szene aber gerade dadurch noch verstörender wirken. Auch wenn Lehrer Mike, der eigentlich keiner Fliege was zu leide tut, sich nach einer guten Stunde plötzlich mit dick bandagierter Nase wegen angeblicher sexueller Übergriffe zwei argwöhnischen Ermittlern gegenüber sieht, folgt die Erklärung erst mit einer kleinen Verzögerung.
Überhaupt spielt Regiedebütant Rufus Norris geschickt mit der Erwartungshaltung des Publikums. Den geistig zurückgebliebenen Rick führt er gekonnt als lammfrommes Opfer ein, das als herzensguter Mensch sofort das Mitleid des Zuschauers weckt. Doch spätestens nach Ricks erstem Klinikaufenthalt keimen böse Vorahnungen auf: Ist die Gefahr, die von Skunks einzigem echten Freund ausgeht, vielleicht doch größer als zunächst angenommen? Gleich mehrfach setzt der Ton in Schlüsselmomenten sekundenlang aus. Stattdessen lässt Norris die Gesichter seiner Protagonisten für sich sprechen und entfaltet damit vor allem bei der blutigen Katastrophe, auf die sein Film unausweichlich zusteuert, eine noch dramatischere Wirkung. „Broken" wandelt sich bald von einer anfangs trotz des ersten Gewaltausbruchs noch weitgehend unbeschwerten, fast seichten Tragikomödie zu einem intensiven Familiendrama, im Schlussdrittel überschlagen sich die Ereignisse förmlich und der Regisseur versetzt dem Zuschauer einen wuchtigen Schlag in die Magengrube.
Norris weicht seiner 11-jährigen Protagonistin selten von der Seite und leuchtet ihre chaotische Gefühlswelt mit ihren Sorgen und Ängsten, der ersten Liebe, der Trauer und Sehnsucht nach einer Mutter ausführlich aus. Schmalzig wird es dabei nie, denn immer wenn Situationen in den Kitsch abzudriften drohen, gibt der Filmemacher ihnen geschickt einen ironischen Dreh. Eloïse Laurence, die zum ersten Mal auf einer Kinoleinwand zu sehen ist, erweist sich als formidabler Glücksgriff und nimmt das Publikum mit ihrer unschuldigen, aber nie naiven Art umgehend für sich ein. Die hollywooderprobten Cillian Murphy („Batman Begins") und Tim Roth („Pulp Fiction") überlassen der talentierten Nachwuchsschauspielerin häufig das Feld, setzen aber auch eigene Akzente. Als Archie verkörpert Roth die besonnenste aller Figuren, er kümmert sich rührend um seine diabeteskranke Tochter und lässt die lasziv im Schlafzimmer posierende Kasia auch schon mal abblitzen, wenn Skunk ohne die Nähe ihres Vaters nicht einschlafen kann.
Fazit: Regisseur Rufus Norris feiert mit seinem Familiendrama „Broken" ein sehenswertes Kinodebüt, das den Zuschauer oft zum Lachen bringt, vor allem aber zu Tränen rührt. Seine blendend aufgelegte Hauptdarstellerin Eloïse Laurence sticht aus der starken Besetzung noch einmal hervor und gibt bei ihrer Leinwandpremiere eine eindrucksvolle schauspielerische Visitenkarte ab.