Jeder Mensch muss mal „Dampf ablassen" – insbesondere aber diejenigen, die unter aussichtslosen, entwürdigenden oder schlichtweg unerträglichen Lebensbedingungen zu leiden haben. Kaum eine Filmszene bringt dies so wuchtig auf den Punkt wie Peter Finchs elektrisierende TV-Ansprache aus der Mediensatire „Network" von 1976: „Ich bin unglaublich wütend und werde es nicht mehr ertragen." Eben diese berühmte und seit Sidney Lumets Klassiker vielfach zitierte Phrase darf mit gutem Grund auch als Leitmotiv des biografischen Problemfilms „Kairo 678" gelten. Der ägyptische Drehbuchautor Mohamed Diab legt damit sein Regie-Debüt vor und bringt einen hierzulande bislang kaum thematisierten Schrecken auf die Leinwand: den sexuellen Terror, den junge Frauen in Ägypten Tag für Tag erdulden und erleiden müssen - arabischer Frühling hin oder her. Auf der Grundlage tatsächlicher Ereignisse beschreibt er den gesellschaftlichen Zustand des heutigen Ägypten aus der Sicht von drei grundverschiedenen Frauen, die durch ihre schmerzhaften Erfahrungen geeint werden. Dabei ist ihm ein mutig provokanter, vollkommen klischeefreier und brandaktueller Film gelungen.
Fayza (Boshra Parwani) ist zweifache Mutter und geringverdienende Angestellte. Im überfüllten Bus 678 auf dem Weg zur Arbeit erlebt sie tagtäglich die gleiche Nötigung: Im sogenannten „Zitronentest" drückt ein Mann eine in der Hosentasche versteckte Limone gegen ihren Körper, als habe er einen steifen Penis. Weil selbstbewusst zurückweisende Frauen öffentlich geächtet werden, wagt Fayza zunächst nicht, sich zu wehren – und der Täter geht einen Schritt weiter. Als sie einer Selbstverteidigungsgruppe für Frauen beitritt, trifft sie auf die dortige Leiterin Seba (Nelly Karim), eine wohlhabende Schmuck-Designerin, die schwer von einer Massenvergewaltigung in einem Fußballstadion gezeichnet ist. Auch die 22-jährige Nelly (Nahed El Sebaï) hat sexuelle Gewalt erleben müssen, mit der wortgewandten Stand-Up-Komikerin findet Sebas Gruppe weiteren Zuwachs. Angesichts desinteressierter Polizei-Behörden müssen die drei Frauen sich selber helfen: Nelly zieht als erste Frau in Ägypten eine Klage wegen sexuellen Missbrauchs durch – mit dem Aktenzeichen 678. Fayza reicht die Scheidung ein. Und Seba geht das Risiko einer Inhaftierung ein, weil sie die „6, 7, 8" sexuellen Übergriffe pro Woche im Fernsehen anprangert...
Mohamed Diab zeigt unmissverständlich, dass hier alle Beteiligten mit einer gehörigen Wut im Bauch ans Werk gegangen sind – vom ersten bis zum letzten Bild hat der Film eine ungeheure Durchschlagskraft. Der Regisseur hat sein filmisches Handwerk an der New York Film Academy gelernt, seine Inszenierung hat internationales Format und sein Erzählstil ist ausgesprochen differenziert. So tariert er die unterschiedliche Herkunft der Protagonisten mit einer ausgeklügelten Farbdramaturgie aus, in der die dunklen Töne dominieren. Erwähnung verdient zudem die gelungene musikalische Untermalung von Hany Adel, die den psychischen Zuständen ein Klangbild gibt, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. Wie auf einem Webstuhl fügt Diab seine Erzählstränge zusammen, dabei entsteht über die Zeichnung der verschiedenen sozial-ökonomischen Milieus, der Bildungshintergründe sowie der Umstände und Auswirkungen sexueller Gewalt eine komplexe Mentalitätsstudie über Ägypterinnen und Ägypter im Hier und Heute. Einen entscheidenden Beitrag dazu leisten auch die hervorragenden Darsteller. Beim Dubai Film Festival erhielt Boshra Parwani für ihre Leistung als Fayza den Preis für die Beste Schauspielerin, in der gleichen Kategorie wurde ihre Kollegin Nahed El Sebai bei den Asia Pacific Screen Awards ausgezeichnet. Die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler stehen den Preisträgern jedoch in nichts nach - hier wird bis in die kleinste Nebenrolle absolut authentische Arbeit geleistet.
Über das spezifisch ägyptische Gesellschaftsporträt hinaus entwickelt Diab in „Kairo 678" auch eindringliche und universell verständliche Ausdrucksformen für das oft sprachlose Grauen, das Frauen jeden Alters überall auf der Welt erleiden. Das Trauma eines Sexualverbrechens kann alles und jeden im Umfeld der Opfer betreffen und die Aufarbeitung kann nie nur Opfersache sein, das wird in vielen besonders aussagekräftigen Szenen des Films deutlich. So etwa, wenn Fayza an einem einzigen Vormittag gleich mehrere Übergriffe erlebt und nach ihrer Heimkehr eine rohe Zwiebel runterschlingt, um ihren zudringlichen Gatten Adel (Bassem Samra) fernzuhalten. Daraufhin verkündet der Zurückgewiesene, dass er bloß geheiratet habe, um Sex zu haben, wann immer er wolle. Die Nahaufnahme von Fayzas Gesicht wechselt von scharf zu unscharf – ein gespenstisches Sinnbild für ihre verkrüppelte Seelenlandschaft und für ihre Sehnsucht nach Selbstauflösung. Besonders verstörend ist auch die Fußballstadion-Szene, in der Seba von ihrem Mann Sheriff (Ahmed El Feshawy) aufgefordert wird, die ägyptische Nationalmannschaft lauter anzufeuern – unmittelbar darauf kommt es zur Massenvergewaltigung. Sheriff kann seine Frau nicht beschützen, erlebt darüber einen Nervenzusammenbruch und kehrt tagelang nicht nach Hause zurück. Verzeihen kann Seba ihm nicht, von einem Mann erwartet sie Schutz und Sicherheit. So werden auch Männer zu Opfern der Gewalt durch Männer.
Fazit: Ähnlich wie Asghar Farhadi mit seinem Berlinale-Sieger „Nader und Simin" von 2011 eröffnet auch Mohamed Diab eine substantielle Auseinandersetzung mit den alltäglichen Problemen und Konflikten in einer muslimischen Gesellschaft. Und noch viel mehr: „Kairo 678" ist ein weit über ägyptische und religiöse Grenzen hinaus bedeutsames feministisches Plädoyer, bemerkenswerterweise vorgetragen von einem Mann – kurz: ein unbedingt sehenswerter Film!