2005 verarbeitete der ehemalige Werbefilmer Savas Ceviz erstmals die Geschichte des blinden Malers Esref Armagan zu einer halbstündigen Fernsehdoku. Mit „Der mit den Fingern sieht" folgt nun das Langfilm-Portrait dieser faszinierenden Persönlichkeit. Was den betagten Türken so besonders macht: Er ist seit seiner Geburt blind, kann aber malen wie der Teufel. In Form, Proportion und Farbe ahmt der Daredevil unter den Künstlern tastbare Gegenstände ebenso korrekt nach wie sonnige Panoramen - und das besser als viele Künstler, die mit den Augen sehen. Ceviz, verantwortlich als Produzent, Regisseur und Cutter, hat keine Science-Doku inszeniert. Experten aus der Wissenschaft kommen nur am Rande zu Wort, der anrührenden Botschaft zur Möglichkeit des scheinbar Unmöglichen gibt Ceviz hier den Vorrang. Das ist schade, denn wissenschaftlicher Blick und ehrfürchtiges Staunen ob dieses einmaligen Phänomens hätten gleichermaßen problemlos in den Film gepasst.
Die erste Filmhälfte liefert einen Einblick in Armagans Kindheit und zeichnet dabei nach, wie er malen lernte – er ließ sich seine Umwelt von seinen Mitmenschen beschreiben und tastete alle Gegenstände, die er in die Finger bekam, genauestens ab. Ceviz erklärt auch, wie es zu Armagans Künstler-Ambition kam: Der Blinde wollte die Welt auf seine ganz eigene Art begreifen. Ceviz erklärt jedoch nicht, wie diese außergewöhnliche Fähigkeit überhaupt entstehen konnte. Die zweite Hälfte füllt Ceviz mit Anekdoten und Ausschnitten aus Armagans Alltag: Eine Begegnung mit Bill Clinton, eine Hochzeit mit Hindernissen, Spaziergänge auf dem Markt. Die Ausflüge ins Private bleiben jedoch bei all ihrer Ausführlichkeit oberflächlich-beschauliche Beobachtung – Ceviz verharrt über seine gesamte Erzählung im schlichten TV-Dokumentarstil, ohne thematisch tiefer zu graben.
Zwischen diesen zwei Abschnitten lässt der Regisseur Wissenschaftler zu Wort kommen; und auch hier verpasst er Chancen. So bleibt leider unverständlich, wieso der Psychologe Prof. John Kennedy, der Armagan Mal- und Zeichen-Tests unterzog, in Tränen ausbrach, als er sich von dessen Fähigkeiten überzeugen konnte. Wieso suchte er 30 Jahre lang nach einem solchen Blinden? Dass Armagan eine einmalige Entdeckung für die Wissenschaft ist, kann sich jeder Zuschauer selbst denken, wenn er dessen Gemälde sieht. Was das konkret für die Wissenschaft bedeutet, darauf geht Ceviz jedoch nicht ein. Von dem Neurologen Alvaro Pascual-Leone erfahren wir lediglich noch, dass sich in Armagans Gehirn während des Malprozesses genau die Hirnregionen regen, die sonst nur bei sehenden Menschen aktiv sind. Die viel interessantere Frage, was das zu bedeuten hat – für andere Blinde, für die Früherziehung, Diagnostik und Therapie – stellt Ceviz nicht.
Armagans Fähigkeit ist wahrlich wundervoll. In diesem Sinne ist das Besondere am blinden Maler nicht seine Kauzigkeit oder der ruhige Alltag, über den hier erschöpfend informiert wird; es ist das künstlerische Ausdrucksvermögen, das ein Blinder nach konventioneller Vorstellung nicht haben kann. Kritisch greift Ceviz dieses Vorurteil auf und plädiert dafür, dass wir vorgefasste Meinungen über Möglichkeit und Unmöglichkeit überdenken sollten, damit wir Menschen nicht ihres verborgenen Potenzials berauben. Auf diesem Punkt bleibt er jedoch stehen. Als einzigen Gewährsmann führt er den Maler vor, der als Erzähler, Thema und Argument in einem diese Botschaft tragen soll.
So dürfen wir am Ende zwar fast in Echtzeit Armagan dabei zuschauen, wie er des Nachts ein neues Werk anfertigt und erfahren nebenbei, wie er das Farbenmischen lernte. Wir vernehmen auch die Botschaft, dass wir unserer Wahrnehmung misstrauen sollen, um ganz nach Franz von Assisi das Unmögliche möglich zu machen. Ceviz' fade Inszenierung wird Armagans Kunst allerdings nie gerecht. Dabei hätte kein Sujet mehr zu visuellen Experimenten eingeladen als das Sehen per se. Nichtsdestotrotz ist „Der mit den Fingern sieht" für all diejenigen einen Blick wert, die Armagans Arbeiten kennenlernen wollen, ohne in nächster Zeit einen Museumsbesuch in New York oder der Türkei unterbringen zu können. Denn Ceviz' Film ist trotz der schlichten Präsentation ein lohnender Einblick in Leben und Werk eines wahrhaft einzigartigen Künstlers und Menschen.