Wenn Milch müde Männer munter machen würde, bräuchten die Molkereien aller Herren Länder bald keine Subventionen mehr. Zumindest auf der Leinwand verkümmert der Kerl zum kastrierten Anti-Helden: Wehleidig, erschöpft, gescheitert, trübsinnig und vereinsamt kapitulieren die Männer im Kino unserer Zeit gleich reihenweise. Auch Regisseur Nuri Bilge Ceylan („Drei Affen") bietet in seinem Kunstfilm-Drama „Once Upon a Time in Anatolia" eine Handvoll urtypischer Jammergestalten männlichen Geschlechts und mittleren Alters auf. Die Protagonisten seines anatolischen Western mit melodramatischem Einschlag begeben sich auf eine richtungslose Reise der Illusionen - eine filmische Irrfahrt voller philosophischer Wortwechsel und Meditationen über das Menschsein. Mit einer Länge von über zweieinhalb Stunden strapaziert „Once Upon a Time in Anatolia" die Geduld all jener Zuschauer, die das Erzählkino mit klarem dramaturgischem Bogen bevorzugen, über Gebühr. Wer sich dagegen auch auf anstrengende filmische Experimente ohne jeden Hauch von äußerer Spannung oder gar Action einlassen mag, der kann eine konsequente, schwer zugängliche Fabel über existentielle Fragen von Schuld und Sühne, Gottvertrauen und Wissenschaft, Leben und Tod, Handeln und Nichtstun, Individualität und Gemeinschaftsordnung für sich entdecken.
Ein Mann wurde ermordet und liegt irgendwo in der anatolischen Steppenlandschaft vergraben. Eine buntgemischte Gruppe macht sich auf die Suche nach der Leiche: Mit von der Partie sind ein Arzt (Muhammet Uzuner), ein Kommissar (Yılmaz Erdoğan), ein Staatsanwalt (Taner Birsel), ein Gerichtsbeamter (Safak Karali), ein Polizist (Murat Kılıç), ein Unteroffizier (Emre Sen), zwei Fahrer (Ahmet Mümtaz Taylan, Ugur Arslanoglu), zwei Soldaten (Hüseyin Bekec, Mehmet Emin Öztürk), zwei Schaufelträger (Turgay Kurkçu, Fatih Ereli) und zwei Tatverdächtige (Fırat Tanış, Burhan Yildiz). Sie formieren sich zum Schrottwagen-Korso, als die Nacht gerade anbricht. Im Schutz der Dunkelheit öffnen sich die Mitglieder der ungewöhnlichen Reisegruppe einander, es ist die Zeit der Eingeständnisse und der Selbsterkenntnis. Dann wird der Tote gefunden und der Morgen bricht an...
„Hier draußen sieht alles gleich aus", meint der Kommissar und schlägt vor, die Suche nach dem Leichenfundort als Fahrt in die Märchenwelt zu sehen. Damit gibt er nicht nur eine Erklärung für den Titel des Films, der zu deutsch „Es war einmal in Anatolien" lautet, sondern legt gleichzeitig eine bestimmte Lesart des Films nahe. Ceylan lässt uns buchstäblich im Dunkeln tappen: Die Männer, ihre Gespräche, ihre Erinnerungen und die gesamte Gegend tauchen ab in Grautöne. Um überhaupt voranzukommen, werden geografische und gesetzliche Grenzen kurzerhand über den Daumen gepeilt, in der ersten Hälfte des Films kommen die einzigen Schlaglichter nicht zufällig von Autoscheinwerfern und offenen Feuerstellen.
In dieser buchstäblich gleichmacherischen Atmosphäre wird die Relativität sozialer Normen offengelegt und die abgehangenen Typen, die sich auf die Odyssee in die karge Landschaft Anatoliens begeben haben, werden unversehens zu Repräsentanten kleinstädtischer Zivilisationsmechanismen stilisiert. Ihr Scheitern scheint vorprogrammiert: Im Schutz der Nacht werden Komplexe und Geheimnisse offenbart, aber am Ende der Reise steht die Verweigerung der naheliegenden Konsequenzen. Wie ein Märchen hat „Once Upon a Time in Anatolia" zugleich etwas Unwirkliches und etwas Klarsichtiges, dabei bleibt es dem Publikum überlassen sich auf die reduzierte Bildsprache und die zuweilen an Tschechow gemahnenden Dialoge selbst einen Reim zu machen. Ceylan hält sich bewusst bedeckt und verweigert die eindeutige Sinnzuschreibung.
Fazit: Für die geduldigen Freunde des anspruchsvollen Kunstfilms ist „Once Upon a Time in Anatolia" einen interessierten Blick wert, für andere könnte das Filmerlebnis zwischen drohender Langeweile und extremer Beanspruchung der Aufmerksamkeit allerdings zu einer kleinen Tortur werden.