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    Winterdieb
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,5
    hervorragend
    Winterdieb
    Von Robert Cherkowski

    Schon in François Truffauts Nouvelle-Vague-Klassiker „Sie küssten und sie schlugen ihn" wurde ein Junge, den eine erbarmungslose Welt zum hastigen Erwachsenwerden zwingt, zum Archetyp des modernen, des existenzialistischen Helden erhoben. Dieses Konzept wurde nie ganz fallengelassen, doch besonders im französischsprachigen Kino wurden in letzter Zeit wieder einsam-melancholische Kinder als traurige Helden auf Kriegsfuß mit einer mitleidlosen Welt in den Fokus gerückt. So begleiten die Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem 2011 in Cannes umjubelten Drama „Der Junge mit dem Fahrrad" einen solchen Protagonisten auf seinem abenteuerlichen Reifeprozess. Und auch Ursula Meier lässt in „Winterdieb", ihrem Wettbewerbsbeitrag auf der Berlinale 2012, einen Knaben auf den Spuren Colin Smiths („Die Einsamkeit des Langstreckenläufers") und Jeff Costellos („Der eiskalte Engel") wandeln. Die Ähnlichkeit zu Jean-Pierre Melvilles legendärem Leinwandgangster beschränkt sich dabei jedoch nicht nur auf die schmallippig hingenommene Verzweiflung an der Welt. Auch der Protagonist von Meiers Sozialdrama ist ein kleiner Gangster, der seinen Weg geht. Ihm dabei zuzuschauen, ist eine ernüchternde, aber äußerst lohnenswerte Erfahrung.

    Der 12-jährige Simon (Kacey Mottet Klein) fristet seine Tage im französischsprachigen Teil der Schweizer Alpen. Das überlebensnotwendige Einkommen verschafft er sich und seiner depressiv veranlagten großen Schwester Louise (Léa Seydoux), indem er tagein tagaus mit einem Lift auf die Skipisten der Berge gondelt, die besser betuchten Touristen um ihre kostspielige Ausrüstung erleichtert und sie für erschwingliche Preise weiterverhökert. Wenn er nach seinen Eltern gefragt wird, erzählt er von einem Unfall, bei dem beide vor Jahren ums Leben gekommen seien, verheddert sich dabei jedoch zunehmend in Widersprüchlichkeiten. Auch hinter dem Verhältnis zur „Schwester" steht etwas anderes, als es zunächst den Anschein hat. Als sie sich im Streit entzweien und Simons Raubzüge immer öfter scheitern, bahnt sich eine Katastrophe an...

    Nein, ein Feelgood-Movie für die Multiplexe ist „Winterdieb" ganz sicher nicht. Simons Welt wird als trist und abweisend geschildert. Während sich die glückliche Oberschicht im Skiressort von der Höhensonne umschmeicheln lässt, bleibt ihm nur der voyeuristische Blick auf sorglose Verhältnisse, an denen er nicht teilhaben kann. Mit professioneller Abgebrühtheit und geübten Handgriffen hat er seine Diebesmethoden kultiviert und gefällt sich sogar ein wenig in der Rolle des findigen Überlebenskünstlers. An die ständige Abweisung durch seine Umwelt hat er sich gewöhnt, ohne dabei die Hoffnung auf ein besseres Leben zu verlieren. Seine Unbeholfenheit beim Versuch, möglichst erwachsen zu wirken, macht ihn liebenswert und seine Situation umso trauriger.

    Léa Seydoux, die sich mit kleinen Auftritten in „Inglorious Basterds", „Midnight in Paris" und „Mission: Impossible - Phantom Protokoll" bereits als künftige Traumfrau für einprägsame Nebenrollen empfohlen hat und in „Leb wohl, meine Königin!", dem Eröffnungsfilm der Berlinale 2012, in einer ihrer ersten Hauptrollen zu sehen war, beweist als „große Schwester" echtes Format. Mit sachten Gesten zeichnet sie das Porträt einer ernüchterten jungen Frau, die eigentlich die Vormundschaft für den jungen Simon übernehmen müsste und der das Erwachsenwerden bis dahin gründlich missglückt ist.

    Ihre gemeinsamen Szenen, etwa wenn sie Simon um Geld anbettelt oder das äußerst bewegende Finale, gehören zu den Höhepunkten nicht nur dieses Films, sondern vielleicht sogar des gesamten, noch jungen Filmjahres 2012. Die Schweizerin Ursula Meier („Home") tut das einzig Richtige und hält sich als Regisseurin behutsam zurück – „Winterdieb" ist pures Schauspielkino. Das kann wiederum nur funktionieren, wenn ein fähiger Macher hinter der Kamera die Übersicht bewahrt und Taktgefühl im Umgang mit Darstellern und Figuren beweist. Mit „Winterdieb" ist Meier ganz in diesem Sinne ein intimes, reifes Werk über Verantwortung, Liebe und Entbehrung gelungen, das zu Recht als heißer Kandidat für den Goldenen Bären gehandelt wird.

    Fazit: „Winterdieb" überzeugt durch fantastische Hauptdarsteller und einen Mut zum großen Gefühl, ohne darüber jemals kitschig zu werden – Ursula Meiers Film ist ein kleines Meisterwerk!

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