„Kinder sind Gäste,
die nach dem Weg fragen.”
(pakistanisches Sprichwort)
„Kann ich jetzt fahren?” fragt der Taxifahrer (Thomas Vinterberg) zwei- oder dreimal, als er Gbatokai (Gbatokai Dakinah) am Landsitz der Familie Klingenfeldt abgesetzt hat. Ein Regisseur schaut kurz vorbei und will schnell wieder weg. Ein bisschen Neugierde, die Lage kurz peilen, obwohl er ja weiß, was er da angerichtet hat – mit diesem Fest beim erfolgreichen Geschäftsmann Helge Klingenfeldt (Henning Moritzen), der sein Geld mit Restaurants verdient hat. Auf ein stolzes Leben scheint er zurückblicken zu können: Geld, Frau und vier Kinder. Ein Fest wird gefeiert. 60 wird Helge an diesem Tag. Die Gäste trudeln ein, Bekannte, Kinder, Enkel, Freunde und andere.
Thomas Vinterbergs „Festen”, ein Dogma-Film – also einer mit der wackelnden digitalen Kamera, ein Film der kein Szenenbild braucht, ja gar keines haben darf, weil es die Dogma-Regeln so vorsehen –, führt nicht nur die Familienmitglieder zu einem feucht-fröhlichen Jubelfest zusammen; „Festen” visualisiert sozusagen den Klimax einer familiären Katastrophe, dekonstruiert die gutbürgerliche oder auch weniger gut bürgerliche Familie und ihre vordergründige, gespielte, Konflikte überdeckende Idylle und die Theorien, die über die Familie in dicken Büchern und schlauen Aufsätzen niedergeschrieben werden. Es geht um Kindesmissbrauch, aber darüber hinaus thematisiert der Film letztlich die vertrackte und für Kinder potentiell immer mehr oder weniger riskante Abhängigkeit von ihren Eltern.
Wer kommt? Der ältere, introvertierte, ernste älteste Sohn Helges, Christian (Ulrich Thomsen), seine noch immer (Anthropologie) studierende Schwester Helene (Paprika Steen), später deren dunkelhäutiger und den Hass Michaels auf sich ziehender, nur englisch sprechender, aber trotzdem alles verstehender Freund Gbatokai und der jüngere Bruder der beiden Geschwister Michael (Thomas Bo Larsen) samt Frau Mette (Helle Dolleris) und Kindern. Michael ist aufbrausend, alkoholabhängig, cholerisch könnte man sagen, streitet um den Dreck unter den Schuhen – bzw. seine schwarzen Schuhe, die – nein, nicht er, sondern Mette vergessen habe einzupacken. Um solche Kleinigkeiten herum dramatisiert Michael sein Leben und das seiner Familie. Helene geht ihren eigenen Weg, sucht nicht ihr Heil in einer eigenen Familie. Sie ist permanent auf der Flucht, studiert Anthropologie in dem vermessenen Glauben, das „Wesen” des Menschen ergründen zu können. Im Zimmer ihrer Schwester Linda (Lene Laub Oksen), in die sie der Empfangschef (Lars Brygmann) des Hauses führt, überkommt sie ein ungutes Gefühl. Dort, im Badezimmer, hat sich Linda das Leben genommen, aber nicht ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen, versteckt, der später noch eine Rolle spielen wird.
Christian scheint in Ordnung, seinem Vater, seiner Mutter scheint es gut zu gehen. Ein fröhliches Fest scheint sich anzubahnen. Und Helge möchte, dass sein Ältester zu seinen Ehren eine Rede hält. Zwei Reden hat Christian geschrieben, eine in einem gelben, eine in einem grünen Umschlag, der Vater darf wählen. Der Vater, so Christian, habe viel gebadet, sei ein reinlicher Mensch gewesen, und er habe ihn und seine Schwester Linda immer mitgenommen, zum Baden. Verwirrung. Besorgte Gesichter. Die Andeutung ist mehr als eine Andeutung, schon gar unter diesen Umständen. Der Koch Kim (Bjarne Henriksen), ein alter Freund Christians, macht ihm Vorwürfe. Christian hätte nach der Rede nicht gehen, sondern die ganze Wahrheit sagen sollen.
„Auf den Mann, der meine Schwester umgebracht hat” – die zweite, kurze Rede Christians. Empörung, er wird für psychisch krank erklärt, Helene macht ihm Vorwürfe, Gäste wollen gehen, doch Pia (Trine Dyrholm) und Michelle (Therese Glahn), die die Gäste bedienen, lassen sämtliche Autoschlüssel verschwinden. Sie und Kim wollen die Wahrheit. Und Christian, der immer wieder zögert, sagt sie, häppchenweise. Dazwischen ein immer dieselbe Geschichte erzählender Großvater, eine singende Großmutter, eine Verteidigungsrede der Mutter. Doch die Wahrheit – oder was man so nennen kann – ist heraus. Helge hat Christian und Linda mehrfach missbraucht.
„Festen” dekonstruiert, was der amerikanische Mainstream-Film auf Biegen und Brechen zusammenhalten will (obwohl oder gerade weil in den USA die Zahl der zerrissenen Familien, der Ein-Personen-Haushalte mit einem oder mehreren Kindern ständig steigt). Vinterberg gestaltet diese Dekonstruktion in einer visuell besonderen Weise, eben mit der Handkamera gedreht, die zweierlei bewirkt: Zum einen erscheint die Handlung manchmal fast surreal, etwa wenn sie über die Erinnerung an die tote Schwester Linda dieser ein Gesicht verleiht, das neben den anderen Gesichtern ganz real wirkt; oder wenn Helene einem Kinderspiel in Lindas Zimmern folgt, das durch Zeichen an Wänden und Decken markiert ist; aber auch dann, wenn die Festgesellschaft in mehr oder weniger angetrunkenem Zustand den Skandal vergessen machen will. Selbst die Schlussszene, in der Helge sich – als wenn es sich bei seinem Kindesmissbrauch um einen ordinären Fauxpas handeln würde – entschuldigt, hat etwas Gespenstisches an sich.
Doch zugleich „kämpft” das Reale, das Unfassbare und doch wirklich Geschehene mit den surreal wirkenden Bildern eines Festes, auf dem die Anwesenden etwas feiern, was sich längst als tragisch und durch und durch verroht erwiesen hat. Dabei wird auf fatale Weise deutlich, wie inhärent die Unterdrückung von Kindern bis hin zum Missbrauch der Institution Familie ist. (1) Der Missbrauch erscheint in „Festen” eben nicht als tragischer „Ausrutscher” oder verbrecherischer „Fehltritt” eines „Kranken”. Er führt zur Ausgrenzung, und zwar zu einer Ausgrenzung, die das Problem verdrängt bzw. verleugnet. Michael ist es, der den Vater auffordert, die Frühstückstafel zu verlassen, damit die anderen überhaupt in Ruhe frühstücken können. Die anderen, sie wollen „in Ruhe gelassen” werden. „Festen” thematisiert die Heuchelei und den Verleugnungsmechanismus einer Gesellschaft, für die Helge vom gefeierten Restaurant-Betreiber zum Aussätzigen wird, ein Mechanismus, der diese Gesellschaft rein halten soll, anstatt zu erkennen, wie die Helges dieser Welt gerade innerhalb dieser Gesellschaft entstehen.
Die familiäre Struktur der Klingenfeldts ist schon lange zerbrochen, zumal die Mutter Zeugin des Missbrauchs gewesen ist. Sie versucht durch ihre Verteidigungsrede zu kitten, was nicht mehr zu kitten ist. Und Michael, das schwächste Glied in der Familienkette, der Alkoholiker, der Choleriker? Er ist derjenige, der den Vater ausstößt, verbannt, wozu die ewig sich auf der Flucht befindende Schwester Helene nicht in der Lage ist, schon gar nicht, nachdem sie den Abschiedsbrief ihrer Schwester vor der versammelten Gemeinde vorgelesen hat.
Helge verlässt das Haus. Christian schaut ihm nach. Er, der den tragischen Teil der Familiengeschichte offenbart, die Revolte gewagt hat, schaut dem Vater nach. Und sein Blick – nur sein Blick, kein Blick irgendeines anderen – ist geprägt von etwas, das in diesem Moment niemand erwarten konnte: Mitgefühl. Mitgefühl, nicht Entschuldigung, wohlgemerkt. Christian scheint, so könnte man diesen Blick interpretieren, begriffen zu haben und zu fühlen, dass er mit der Offenbarung des Missbrauchs und der Vater mit dem (wenn auch schwachen) Eingeständnis der Schuld an einen Punkt gekommen sind, an dem es nur noch eine Chance für beide geben kann: Miteinander sprechen. Der Film endet an diesem Punkt. Er lässt offen, was nun geschehen könnte. Nur Christians Blick weist in eine Richtung, die dem Film eine andere Dimension gibt, als man vielleicht anfangs meinen könnte. Dieser letzte Blick Christians ist von allem geprägt, was die Familiengeschichte der Klingenfeldts kennzeichnet, vor allem aber von dem, was der Vater hätte sein können, was er aber nicht war, von Zweifel, von Verlust, von Hoffnung, sogar von einem unter diesen Umständen kaum zu erwartenden Hauch von Zuneigung – von der Forderung nach einem liebenden Vater.
Wenn dies jetzt nicht geschehen sollte, dieses Gespräch, diese Wieder-Annäherung, zumindest der Versuch dazu – was wird geschehen? Nichts. In diesem Nichts, der Rekonstruktion dessen, was gerade dekonstruiert wurde, läge das Tragische, das nach einem kurzen revoltierenden Rausch alles beim Alten ließe.
Vinterberg dekonstruiert die Illusionen und Ideologien über die Familie, aber er bleibt nicht bei einer Verurteilung stehen. Das hat nichts mit einer Hintertür zu tun, über die er die Familie noch retten wollte. Es hat etwas zu tun mit einem Über-die-Familie-hinaus. Dieser Missbrauch – so wird deutlich – ist Teil des sozialen Kontextes und nicht ein Fremdkörper, der von irgendwo her, von außen in einen „gesunden” sozialen Zusammenhang eindringt. Vor allem die Ignoranz innerhalb wie außerhalb des familiären Kontextes – so wird hier mehr als deutlich – lässt die geschehene Tat als ungeschehen stehen. Hier – wenn überhaupt – liegt der Schlüssel für die Tür, hinter der sich offenbaren könnte, dass Kinder nicht schutzlos ihrer nächsten Umgebung ausgeliefert sein müssen.
(1) Kindesmissbrauch ist in aller Regel kein Vorgang, der von Fremden begangen wird, die in eine funktionierende Gemeinschaft kriminell einbrechen. Die Täter setzen gerade auf das Vertrauen von Kindern in ihrem eigenen Umfeld, das sie schändlich missbrauchen:
„Entsprechend der unterschiedlichen Einschätzung über die Höhe der Dunkelziffer gehen ExpertInnen davon aus, dass jährlich schätzungsweise 80.000 bis 300.000 Kinder in Deutschland sexuell missbraucht werden.
Die Täter und Täterinnen kommen zu über 90 % aus dem sozialen Nahbereich der Opfer! Väter, Stiefväter, Brüder, Lehrer, Pfarrer, Mütter, Onkel, Babysitter, Freunde der Großeltern, Großväter, Tanten, Trainer, Erzieherinnen, Therapeuten, Nachbarn, Ärzte - sprich unauffällige und "anständige" Bürger und Bürgerinnen missbrauchen Kinder und Jugendliche.
Ca. 80-90 % der Täter sind Männer und ca. 10-20 % sind Frauen.”
(Quelle: http://www.missbraucht.de/fakten.htm)