Skeptisches „One-Hit-Wonder"-Geraune dürfte jedem sogenannten Regie-Wunderkind vertraut sein. Im Fall des gerade einmal 23-jährigen Xavier Dolan sollte aber so langsam klar sein, dass sein gefeiertes Debüt „I Killed My Mother" von 2009 kein Glückstreffer war, sondern nunmehr als Auftakt zu einer steilen Künstlerkarriere gelten muss. Nach seinem zweiten Film "Herzensbrecher" liefert Dolan nun mit seiner dritten Regie-Arbeit „Laurence Anyways" sein erstes Meisterwerk ab. Nach diesem zweieinhalbstündigen Kraftakt wird man ihn nicht mehr ignorieren können. Das schien auch Dolan selbst so zu empfinden: Ausgesprochen selbstbewusst bekundete er auf den Filmfestspielen von Cannes 2012, wie enttäuscht er darüber sei, dass sein Transsexuellen-Beziehungsdrama es nur in die Nebenreihe Un Certain Regard und nicht in den offiziellen Wettbewerb geschafft hatte. Wäre sein überwältigender Film dort gelandet, wäre Dolan der Regiepreis wohl nicht mehr zu nehmen gewesen.
Laurence (Melvil Poupaud) und seine Freundin Frédérique, genannt Fred (Suzanne Clément), sind ein glückliches junges Paar. Beide sind hochintelligent, auf kantige Art attraktiv, trendbewusst und aufgeschlossen – es scheint, als würde ihrem gemeinsamen Glück rein gar nichts mehr im Wege stehen. Eines Tages jedoch lässt Laurence die Bombe platzen und gesteht seiner Freundin, dass er sich als Frau im Körper eines Mannes fühlt und in Zukunft so leben will, wie es ihm/ihr von Natur aus nicht gegeben war. Und die Lage ist noch weitaus komplizierter, als es zunächst den Anschein hat: Nur weil sich sein Aussehen und irgendwann auch sein Geschlecht ändern werden, bedeutet das für Laurence nicht, dass er Fred nicht mehr liebt und begehrt. Gegen alle Widerstände in Beruf, Familie und des eigenen Erfahrungshorizonts kämpfen beide für ihre Liebe...
Das Thema Transsexualität wurde auch künstlerisch bereits aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln betrachtet. Während das Leben in der fremden Haut früher als Bedrohung, sittliche Verfehlung oder Krankheit betrachtet wurde, haben mutige Filmemacher wie Rainer Werner Fassbinder („In einem Jahr mit 13 Monden") oder Pedro Almodóvar („La Mala Education", „Die Haut, in der ich wohne"), den Wandel der Geschlechter als Versuchsanordnung zum Thema Identität benutzt. Xavier Dolan führt ihre Arbeit fort und liefert den Film ab, den Fassbinder aufgrund seines Todes und Almodovar aufgrund seiner Altersmilde nicht mehr drehen können. Dolan ist quicklebendig und kämpferisch – und so ist auch der Kampf seiner Protagonisten alles andere als leicht. Streit, Trennung, Wiedervereinigung, Seitensprünge, kurz: die gesamte Palette der Beziehungsdramatik hat Dolan in sein Liebesepos gepackt. Der Unterschied zu klassisch-konventionellen Liebesdramen wie „Love Story": Seine Geschichte ist unter Avantgardisten, Transsexuellen, Freaks und Geeks angesiedelt.
Das bedeutet jedoch keineswegs, dass Dolan hier nicht dem gleichen Willen zum unbedingten emotionalen Exzess frönen würde. Der kraftvolle und äußerst geschmackssicher zusammengestellte Soundtrack tut sein Übriges, um dem Publikum in schöner Regelmäßigkeit echte Gänsehauterlebnisse zu bescheren. Wenn bereits in der Titelsequenz Fever Rays „If I Had a Heart" läuft, während dabei die schaulustigen, aggressiven oder ambivalenten Blicke gezeigt werden, die Laurence in seiner neuen Haut auf sich zieht, ist mit geringen Mitteln bereits sehr früh im Film ein erster von vielen magischen Momenten geschaffen. Die rätselhaft-suggestiven Schnittfolgen, die Dolan in seine Erzählung einflechtet, sowie seine expressiv-farbenfrohe Lichtsetzung – selten durften Rot und Blau so strahlen –, all diese Regie-Entscheidungen zeugen von einem Mut zur Überwältigung, den man in dieser Form selten erlebt. Manch einer mag das kitschig finden – solange dieser Kitsch aber so ehrlich und wuchtig daherkommt, kann es nicht genug davon geben.
Doch „Laurence Anyways" ist nicht nur maßlos, sondern auch clever. Hier werden keine Instant-Gefühle in konsumierbaren Häppchen präsentiert, sondern kantige und unwirtliche Seelenlandschaften erkundet. Zwar fährt auch Dolan ewig engstirnige Spießbürger auf, die Laurence‘ Entscheidung mit den üblichen Vorurteilen begegnen, doch werden diese entschieden abgeschmettert – die zentralen Konflikte tragen die Protagonisten untereinander aus. Und dabei spielen sich die Darsteller schier die Seelen aus dem Leib. Während Melvil Poupaud („Die Zeit, die bleibt") als Laurence würdevoll alle Overacting-Untiefen umschifft und nie auch nur in die Nähe der Klischee-Transe vom Dienst kommt, berserkert sich Suzanne Clément („I Killed My Mother") als Fred mit Wut, Frust und Freude durch den Film.
Nebenbei erzählt Clément damit auch von einer ewigen Nonkonformistin, die nicht erwachsen und langweilig werden wollte und sich doch genau dabei ertappt. Nathalie Baye („Die Blume des Bösen", „Catch Me if You Can") als Laurence' Mutter spielt dazu gekonnt nuanciert und gibt ihrer Nebenhandlung damit mehr Tiefe als andere Filmemacher sie in ganzen Filmen eröffnen. Dass der Humor dabei nicht zu kurz kommt und es immer wieder zu fetzigen Wortgefechten und deftigen Punchlines kommt, ist ebenso dem vielseitigen Drehbuch wie dem engagierten Spiel der Darsteller zu verdanken. Mit 159 Minuten ist „Laurence Anyways" bemerkenswert umfangreich ausgefallen. Und doch stellt sich auch beim langen Ausklang, mit dem Dolan uns aus einem der erschöpfendsten, beglückendsten und kraftvollsten Filme des Kinojahres 2012 entlässt, noch lange keine Langeweile ein – auf dem Niveau wären auch ganze drei Stunden oder mehr ein Genuss gewesen.
Fazit: Mit seinem Transsexuellen-Drama „Laurence Anyways" hat sich Xavier Dolan endgültig in die erste Riege großer Autorenfilmer vorgespielt und ein echtes Meisterwerk abgeliefert.