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    Im Westen nichts Neues
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Im Westen nichts Neues

    Netflix wagt sich an ein Kriegsfilm-Meisterwerk!

    Von Björn Becher

    Geprägt von seinen eigenen Erfahrungen als blutjunger Soldat im Ersten Weltkrieg, schrieb Erich Maria Remarque sein ganzes Leben gegen das Morden in den Schützengräben an. Die klare pazifistische und antimilitaristische Haltung des deutschen Schriftstellers findet sich auch in den bisherigen Adaptionen seines berühmten Werkes „Im Westen nichts Neues“ wieder: dem bereits 1930 nur zwei Jahre nach der Roman-Veröffentlichung produzierten und mit dem Oscar als Bester Film ausgezeichneten Meisterwerk von Lewis Milestone, sowie der 1980 mit dem Golden Globe bedachten TV-Neuverfilmung von Delbert Mann. Nun gibt es – fast 100 Jahre nach Erscheinen des Romans – erstmals auch eine deutsche Adaption.

    Mit den Netflix-Millionen im Rücken kann Edward Berger („Jack“) bei dieser richtig ranklotzen. Stark bebildert und auch akustisch eindrucksvoll zieht er das Publikum mitten hinein in das sinnlose Sterben. Bei seiner freien Verfilmung verdichtet und verkürzt er den Stoff auf der einen Seite extrem und stellt so den reinen Überlebenskampf seines jungen Protagonisten und dessen Kameraden an der Front noch stärker in den Mittelpunkt. Parallel erweitert er das Geschehen aber um einen Blick auf die Friedensverhandlungen, wobei die damit einhergehende Botschaft dann mitunter doch ein wenig platt vermittelt wird. Nichtsdestotrotz ist dieser „Im Westen nichts Neues“ ein würdiger deutscher Kandidat für die Oscars 2023, zu dem er bereits vor seiner Weltpremiere gekürt wurde.

    So hat sich Paul den Krieg nicht vorgestellt.

    Frühjahr 1917, das dritte Kriegsjahr läuft: Als er die Unterschrift seines Vaters fälscht und sich für die Armee einschreibt, glaubt der junge Abiturient Paul Bäumer (Felix Kammerer) noch, dass er in wenigen Wochen gemeinsam mit seinen besten Freunden Paris erobern wird. Aber schon das in die Uniform eingenähte Namensetikett hätte ihn stutzig machen sollen. Dass die Realität sich nicht mit seinen Vorstellungen deckt, wird ihm aber auch so schnell bewusst. Im dreckigen Schützengraben geht es auch 18 Monate später nur ums nackte Überleben, während der deutsche Staatssekretär Matthias Erzberger (Daniel Brühl) die Hunderttausende toten jungen Männer an der Westfront als Argument nutzt, um gegen Widerstände des Militärs mit den Verhandlungen über einen Waffenstillstand zu beginnen...

    Brutal-effektiv zeigt Edward Berger schon in den ersten Minuten die „Maschinerie“ Krieg. Da begleiten wir einen jungen Soldaten, wie er mit seinen Kameraden raus aus den Gräben und ins Gewehrfeuer des Feindes geschickt wird. Im Anschluss an die Schlacht wird die Ausrüstung der Toten eingesammelt und gen Heimat geschickt, wo in großen Nähfabriken die Einschusslöcher nur notdürftig geflickt werden. Schon kurze Zeit später landet die Uniform des anfangs begleiteten Soldaten in den Händen des naiven Paul Bäumer, der nun seinerseits an die Front fährt. Zumindest für die Uniform ist es ein steter Kreislauf, die Menschen darin werden hingegen einfach nur vernichtet.

    Eine sehr freie Verfilmung

    Es dauert nur Minuten, bis auch Bäumer und seine Freunde an der Front angekommen sind. Die im Roman ausführlich in Rückblenden erzählte Indoktrinierung durch den Lehrer deutet Berger nur mit einer kurzen Rede des Schuldirektors an, wenn er den Jungs verspricht, dass sie für „Kaiser, Gott und Vaterland“ schon in wenigen Wochen ruhmreich Paris erobern werden. Dass die Grundausbildung im Film gar komplett eingespart wird, lässt es nur noch grausamer wirken, wie unvorbereitet Paul und Co. sich plötzlich im Kugelhagel wiederfinden. Auch der längere Abschnitt rund um einen Heimurlaub fällt in dieser Adaption weg – und damit auch das letzte bisschen Bindung an die Heimat, was das Treiben im französischen Niemandsland sogar noch sinnloser erscheinen lässt.

    Gerade nach dem eineinhalbjährigen Zeitsprung geht es nur noch um den Horror der Gräben. Unter den Fittichen des erfahreneren Soldaten und bald engen Freundes Stanislaus „Kat“ Katczinsky (Albrecht Schuch) warten Bäumer und die anderen meist einfach nur darauf, dass es wieder zu einem Gefecht kommt und sich die Front ein paar Meter in die eine oder andere Richtung verschiebt. Gekonnt hält Berger selbst bei längeren Phasen der Wartezeit die Spannung hoch. Immer wieder füllt das Gesicht eines der Soldaten das Bild aus, sodass nur noch zu erahnen ist, was um ihn herum gerade passiert. Jeden Moment könnte aus dem Nichts die (tödliche) Kugel kommen.

    Kat wird zum wichtigen Freund.

    Akustisch untermalt wird dies von Volker Bertelmann. Der auch als Hauschka bekannte, für „Lion“ oscarnominierte Experimentalmusiker setzt einen „klassischen“ Orchesterscore nur sehr selten und kaum wahrnehmbar im Hintergrund ein. Statt monumentaler Überwältigungsmusik dominiert auf der Tonspur stattdessen meist ein Unheil ankündigendes Dröhnen. Weite Passagen kommen sogar komplett ohne Musikuntermalung aus, da hört man nur die Schreie der Soldaten, die Einschläge der Haubitzen und die Schüsse der Gewehre. Weil der Kameramann James Friend, mit dem Berger schon bei den US-Serien „Patrick Melrose“ und „Your Honor“ zusammengearbeitet hat, zudem immer wieder zur Handkamera greift, fühlt man sich in den stärksten und dann meist auch bittersten Momenten von „Im Westen nichts Neues“, als wäre man mitten drin in den Kämpfen.

    Schonungslos, brutal und blutig wird hier gestorben. Es gibt zerfetzte Köpfe und Beine, da wird, wenn Gewehr und Bajonett nicht mehr zur Verfügung stehen, auch zum Klappspaten oder in einer besonders heftigen Szene zum Helm gegriffen, um dem Gegner im Nahkampf den Schädel einzuschlagen. Meist namenlos bleibende junge Männer schlachten sich hier einfach deshalb gegenseitig ab, weil es ihnen befohlen wurde (und auch der Protagonist erhält darüber hinaus nur eine sehr rudimentäre Charakterisierung). Eine unnötige Gut-Böse-Gegenüberstellung ergibt sich nur einmal, wenn wir erst die Franzosen sehen, wie sie mit Flammenwerfern einen von Pauls Freunden abfackeln, obwohl er sich ergibt, während kurz darauf Paul einen von ihm selbst im Zweikampf mit dem Messer verletzten Gegner zu retten versucht.

    Neu dabei: Echte Geschichte

    Die Story des Romans „Im Westen nichts Neues“ ist zwar von Remarques Erlebnissen beeinflusst, aber am Ende doch samt aller Figuren komplett fiktiv. Doch für die Neuverfilmung wurden nun Szenen abseits der Schützengräben mit realen Figuren hinzugefügt: Es gibt die Friedensverhandlungen von Matthias Erzberger und den von Devid Striesow hart an der Grenze zur Parodie gespielten Preußen-General Friedrichs, der in seinem sicheren Schloss hinter der Frontlinie gegen die Sozialdemokraten wettert, die in seinen Augen Deutschland verraten. Diese Szenen dienen vor allem dazu, das gegenüber der Vorlage abgeänderte Finale vorzubereiten. Dieses versieht die Kernaussage, wie unsinnig der Krieg ist, noch mal mit einem deutlich dickeren Ausrufezeichen, als es der titelgebende „Im Westen nichts Neues“-Heeresbericht in der Vorlage und den beiden vorherigen Verfilmungen tat.

    Wenig subtil, aber wirkungsvoll ist neben dem abgeänderten Ende auch das zweite Element, welches die Abschweifungen zu Heeresführung und Politik mit sich bringen: Immer wieder nutzt Berger Essen, um zu verdeutlichen, wie die entrückten Mächtigen hier ihre jungen Männer verfeuern. Da halten Kat und sein Kamerad Tjaden (Edin Hasanovic) mitten in der Erstürmung einer gegnerischen Stellung inne, um mit dem gefundenen Baguette wenigsten kurz was zwischen die Zähne zu bekommen. Szenen der Verhandlungen fangen dagegen auch mal mit der Aufnahme des reichhaltigen Frühstücks an – wenn sich der französische General nicht gerade darüber beschwert, dass die Croissants ja wohl vom Vortag seien…

    Fazit: Die schon im Original sehr deutliche Anti-Kriegsbotschaft der Vorlage versieht Edward Berger bei seiner Adaption von „Im Westen nichts Neues“ mit einem sogar noch dickeren Ausrufezeichen – subtil geht sicherlich anders. Trotzdem gelingt ihm eine inszenatorisch starke, mitreißende und dramatische Neuverfilmung eines absoluten Literatur- und Kino-Klassikers.

     

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