Mit seinem schockierend-brutalen Horror-Drama „Martyrs" von 2008 hat sich Regisseur Pascal Laugier auf einen Schlag ins Genre-Pantheon vorgekämpft. Sein Folter-Albtraum ist mit einer solchen Wucht, Präzision und Entschlossenheit inszeniert, dass er heute bereits als moderner Klassiker gilt. Wie zuvor das andere französische Horror-Wunderkind Alexandre Aja („Piranha 3D") folgte Laugier nach seinem Durchbruch dem Ruf der Ferne und ging nach Amerika. Dem Horrorfach bleibt er mit seiner ersten US-Produktion „The Tall Man" zwar nun treu, doch schlägt der Franzose dieses Mal klassischere Töne an und dirigiert einen lupenreinen Mystery-Thriller. An die ungeheure Intensität des Vorgängers kommt Laugier mit seinem Kurswechsel jedoch nicht einmal ansatzweise heran. „The Tall Man" ist eine schwache Genre-Fingerübung, die nach einem cineastischen Vorschlaghammer wie „Martyrs" enttäuschend zahm wirkt.
Das einstige Industriestädtchen Cold Rock ist auf dem besten Weg, zur Geisterstadt zu verkommen. Nur wenige Anwohner hält es noch vor Ort, die meisten sind längst vor der Arbeits- und Perspektivlosigkeit in Richtung Zivilisation geflohen. Zu allem Überfluss verschwinden regelmäßig Kinder, ohne dass die Behörden einen blassen Schimmer hätten, wo sie mit ihren Ermittlungen ansetzen sollten. Unter den Anwohnern wird bloß vom mythischen Tall Man geraunt; Beweise für dessen Existenz kann jedoch niemand liefern. Auch Julia (Jessica Biel) will nicht an den Boogeyman glauben - bis eines Nachts ihr eigenes Baby von einer hünenhaften Gestalt entführt wird. Entschlossen nimmt sie die Verfolgung auf und findet sich bald in einem Albtraum wieder, der sie nicht nur am Verstand der grimmigen Cold Rocker, sondern auch an ihrem eigenen zweifeln lässt...
Wie bei „Martyrs" schlägt Laugier auch in seinem US-Debüt wieder ein paar Genre-Haken. Doch während er das Publikum 2008 im Zickzack zwischen Rachethriller, Geistergeschichte, Drama und Folter-Exzess noch durch ein Wechselbad der Gefühle peitschte, wirken die Wendungen hier lediglich irritierend. Von den ersten Minuten an verzettelt er sich zwischen Düstermärchen und platter Hinterwäldler-Folklore: Nach einem schwülstig-dramatischen Prolog beginnt eine unerwartet actionreiche Verfolgungsjagd, die in ein Psychohorror-Kapitel mündet. Anders als in „Martyrs" fügen sich die unterschiedlichen Aspekte jedoch nicht zu einem schaurigen Mosaik zusammen, vielmehr wirken sie wie gewaltsam verbundene unpassende Puzzlestücke. Auch der betont düstere und zwischenzeitlich regelrecht billig wirkende Digital-Look enttäuscht. Von der gruseligen Backwoods-Stimmung etwa eines „Winter's Bone" ist hier kaum etwas zu spüren.
Der titelgebende Tall Man wirkt zudem, als wäre er einer alten „Akte X"-Episode entlaufen. Dementsprechend zahm ist der Film auch - zumindest im Vergleich zu den Blutbädern, die Laugier und seine Kollegen der französischen Nouvelle Vague des Horrors zuvor veranstaltet haben. Nicht minder extrem war damals, was Laugier seinen Schauspielern abverlangte. „Martyrs" war nicht zuletzt deswegen so packend, weil Morjana Alaoui und besonders Mylène Jampanoï den Filmtitel beim Wort nahmen und sich ihrem Regisseur vollkommen auslieferten. Die „The Tall Man"-Besetzung um Jessica Biel („Total Recall") ist von solchem totalen Engagement schon allein rollenbedingt weit entfernt. So darf Nebendarsteller-Ass Stephen McHattie („Watchmen") als ratloser Polizist zwar stilecht die Stirn in Falten legen, über die Leidenschaftslosigkeit, mit der hier weitestgehend zu Werke gegangen wird, können solche Momente jedoch nicht hinwegtrösten.
Fazit: Mit seinem US-Debüt „The Tall Man" enttäuscht Horror-Hoffnungsträger Pascal Laugier auf ganzer Linie – sein verquaster Mystery-Thriller ist erzählerisch verfranst und optisch eintönig.