Mailand oder Madrid? Für Fußballer Andy Möller war die Sache klar: Hauptsache Italien! Bukarest oder Budapest? Wenn amerikanische Filmemacher im östlichen Teil (Mittel-)Europas drehen, dann fällt die Antwort oft ähnlich sorglos-uninformiert aus wie der legendäre Interview-Fauxpas des Star-Kickers. In Fredrik Bonds furiosem Regiedebüt „Lang lebe Charlie Countryman" wird die Verwechslung zwischen den Hauptstädten von Rumänien und Ungarn nun sogar zum Handlungsclou. Der Regisseur erhebt die Beliebigkeit oder vielmehr ihren Anschein zum Gestaltungsprinzip eines wüsten Genre-Hybriden voller irrer Regie-Ideen und phantastisch aussehender Bilder. Er überlädt seine mythisch angehauchte Gangster-Romanze inhaltlich wie formal mit einer solchen lustvollen Konsequenz, dass eine wilde Räuberpistole herauskommt, die in ein wahres Inszenierungsinferno mündet. Und dabei ist es selbstverständlich unerheblich, warum der Film zufällig in Bukarest spielt. Warum denn nicht! Fest steht, dass die Metropole in der Walachei sich vorzüglich als origineller Schauplatz eignet.
Der junge Charlie Countryman (Shia LaBeouf) sucht daheim in Chicago nach Orientierung im Leben. Nachdem seine Mutter Katie (Melissa Leo) an Krebs stirbt, erscheint ihm die Tote und gibt ihm den Ratschlag, sein Glück doch bitteschön mal in Bukarest zu versuchen (eigentlich meint sie aber Budapest). Der verwirrte Charlie setzt sich in den nächsten Flieger gen Osten und macht auf dem Flug Bekanntschaft mit dem rumänischen Musiker Victor (Ion Caramitru), der kurzerhand an seiner Schulter für immer einschläft. Über den toten Victor gerät Charlie in Bukarest an dessen Tochter Gabi (Evan Rachel Wood). Er verliebt sich auf der Stelle in die hübsche Cellistin. Doch eigentlich ist sie noch mit dem undurchsichtigen Unterweltboss Nigel (Mads Mikkelsen) verheiratet. Und mit dem brutalen Mobster ist gar nicht gut Kirschen essen. Nachdem Charlie sich in einem Hostel eingenistet hat, begibt er sich mit seinen Zimmernachbarn Karl (Rupert Grint) und Luc (James Buckley) erst einmal auf einen gepflegten Drogentrip, der ihn jedoch im Laufe der Nacht direkt zu Gabi führt...
Als „Transformers"-Superstar Shia LaBeouf angekündigt hat, aus dem Blockbuster-Betrieb Hollywoods auszusteigen und auf der Suche nach künstlerischer Freiheit nur noch kleinere und unabhängige Filme zu drehen, erntete der Kalifornier nicht wenig Häme und Spott. Mit dem Prohibitions-Reißer „Lawless - Die Gesetzlosen", der in Cannes 2012 im Festival-Wettbewerb lief, gelang ihm in einer Nebenrolle dann aber ein durchaus vielversprechender Start in seinen neuen Karriereweg, doch mit dem bei der Berlinale 2013 im Wettbewerb platzierten „Lang lebe Charlie Countryman" macht LaBeouf richtig ernst. Er schmeißt sich mit beeindruckendem Elan in seine Rolle, als langhaariger, bärtiger und ständig schwitzender Charlie Countryman verabschiedet er sich zudem bewusst von seinem Image als gutaussehender Saubermann. Und ja: LaBeouf überzeugt als naiver großer Junge, der sein Leben einsetzt, um die große Liebe zu finden, auch schauspielerisch. Ein Sympathieträger ist er als zum Spielball der Halb- und Unterwelt von Bukarest gewordener Charlie, der in aussichtsloser Lage den trotzigen Mut des bedingungslos Liebenden zeigt, sowieso. Mit seinem potenziell spektakulären Auftritt in Lars von Triers Porno-Drama „Nymphomaniac" könnte LaBeouf sich demnächst durchaus endgültig als Charakterdarsteller etablieren.
Regisseur Fredrik Bond stürzt den Betrachter gleich mitten ins Geschehen und platziert seinen böse zusammengedroschenen Titelhelden an einem tödlichen Abgrund. Dieser Kniff hat sich schon oft bewährt und sorgt auch hier für Neugierde. Für die nach dem rasanten Auftakt nötige Orientierung sorgt mit John Hurt („Alien", „Contact") ein allwissender Erzähler, irritierend ist jedoch dessen märchenhaft-salbungsvoller, mythisch überhöhender Tonfall. Zuweilen wirkt es nicht nur hier fast so, als wollte der ehemalige Werbefilmer Bond um jeden Preis den Gestus des Andersseins beibehalten, der dabei zuweilen zum Selbstzweck zu geraten droht. Wenn er epische Zeitlupen-Sequenzen - gern auch in Verbindung mit grandiosen Musikkollagen, die den tollen Soundtrack von Künstlern wie Moby, M83 oder The XX zur Geltung bringen – serviert, dann schafft er eine sogartige Atmosphäre mit stimmungsvollen Bildern. Inszenatorische Gradlinigkeit und erzählerische Ausgewogenheit sind jedoch etwas ganz anderes und so wird „Lang lebe Charlie Countryman" als Ganzes nur äußerst notdürftig zusammengehalten.
Es bleibt den Darstellern überlassen, für ein Mindestmaß von Kontinuität und Kohärenz zu sorgen. Neben LaBeouf überzeugt dabei vor allem der Däne Mads Mikkelsen („Casino Royale", „Die Jagd"), der zeigt, dass er nicht umsonst momentan der größte Star Skandinaviens ist: Seine Präsenz als Fiesling ist schlicht beängstigend. Auch die US-Amerikanerin Evan Rachel Wood („The Wrestler", „Across the Universe") meistert ihren Part als Rumänin Gabi bravourös und erweist sich aller Liebesmühen als würdig. Und dann ist da ja auch noch der kernige Auftritt des deutschen Kino-Königs Til Schweiger („Keinohrhasen", „Kokowääh 2"). Als rumänische Unterweltgröße Darko (das „r" rollt er mindestens so schön wie Peter Maffay) gibt er den ganz harten Macker und lässt dabei eine herrlich sympathische Selbstironie aufblitzen, derer man sich aber nie ganz sicher sein kann. Absolut schelmisch!
Mit den genannten Kollegen kann Harry-Potter-Kumpan Rupert „Ron Weasley" Grint auch rollenbedingt nicht ganz mithalten. Als Charlie Countrymans Geselle Karl strebt er eine Karriere im Pornobusiness an – immerhin ist sein dafür erwählter Künstlername Boris Pecker einer der besten Gags des Films (was das heißt, darf jeder gern selbst nachschlagen). Wenn Karl nach einem Vorsprechen mit fünf Viagra intus in Darkos Nachtclub runterkommen muss, ist das für sich genommen ziemlich amüsant, aber zum Rest des Films passt die ganze Sequenz nicht. Das ist das Grundproblem dieses notorisch unrunden Werks: Mit der dramaturgischen und stilistischen Uneinheitlichkeit geht ein wechselnder Erzählton einher. Bond ist mal ernst, dann heiter, mal märchenhaft, mal überirdisch, mal superbrutal. Die unverwechselbar eigene Mischung der Elemente, die etwa ein Guy Ritchie („Bube, Dame, König, Gras") zu seinem Markenzeichen gemacht hat, fehlt hier noch. Aber ein faszinierend surreales Abenteuer ist „Lang lebe Charlie Countryman" dennoch.
Fazit: Fredrik Bonds wüst-wilde Liebesfabel ist eine bei weitem nicht perfekte, aber atmosphärische Achterbahnfahrt voller faszinierender Bilder. In seiner märchenhaft-überhöhten Unterwelt-Romanze gelingt es Shia LaBeouf zudem, sein Image als „Transformers"-Posterboy abzulegen.