Mein Konto
    Wie Luft zum Atmen
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    3,5
    gut
    Wie Luft zum Atmen
    Von Christian Horn

    „Die Welt ist klein, aber manchmal auch ganz schön groß”, lässt uns zu Beginn von Ruth Olshans Dokumentarfilm „Wie Luft zum Atmen” ein georgischer Musiker wissen. Und bei dieser Größe wird Georgien, zwischen Europa und Asien im Kaukasus gelegen, nur allzu oft vergessen. Dabei hat das Land eine weit zurückreichende Kultur zu bieten, die sich in erster Linie in volkstümlicher, mündlich überlieferter Musik manifestiert hat. In ihrer Dokumentation porträtiert Ruth Olshan diese musikalische Tradition, das Land Georgien und seine Einwohner auf schlichte und trotzdem eindringliche Art und Weise.

    Ruth Olshan wurde 1970 in Moskau geboren und emigrierte im Alter von vier Jahren nach Deutschland, wo sie in Berlin zunächst Film- und Theaterwissenschaften studierte und daraufhin ein Studium der Filmregie absolvierte. Für ihren Dokumentarfilm reiste sie nach Georgien, um mit Kameramann Marcus Winterbauer den kulturellen Wurzeln des Landes auf den Grund zu gehen. Dafür begleitet sie zum Beispiel einen Männerchor, dessen Leiter Georgien auf der Suche nach alten Männern durchreist, die alte Lieder weitergeben können, um somit die Tradition der Volkslieder zu erhalten. Die Musik zeichnet sich in erster Linie durch die polyphone Stimmführung und eine rhythmische Komplexität aus, deren Harmonie auf einem Tonlagensystem beruht, das mehr als 300 Jahre früher als in Europa aufgeschrieben wurde. Aufgrund ihrer Einzigartigkeit wurde die traditionelle Volksmusik Georgiens von der UNESCO zum Weltkulturerbe ernannt. Und tatsächlich, die Musik ist zwar nicht „sexy“ (wie ein Junge aus einem Chor uns wissen lässt), durch ihre Einfachheit wirkt sie aber sehr erhaben.

    Und sie ist der Schlüssel zum georgischen Selbstverständnis, zu der Mentalität eines Landes, dessen Einwohner unter Armut und einer schwierigen Situation am Arbeitsmarkt leiden müssen. Viel mehr als in Europa wird die Musik als ein gemeinschaftliches Zusammenkommen zelebriert: Man trifft sich in Gruppen, spielt auf altertümlichen Instrumenten, singt mittelalterliche Choräle – und kann die Härten des Alltags für einen Moment vergessen. Eine der Chorfrauen sagt uns, dass die Georgier die Musik „Wie Luft zum Atmen“ brauchen. Und in Ruth Olshans Dokumentarfilm entsteht wirklich der Eindruck, dass die Georgier ihre Lebensenergie aus der musikalischen Betätigung ziehen und ihr Selbstbild dadurch entwerfen.

    Die Lieder, deren Texte vermutlich aus altsumerischen Sprachen entwickelt wurden, erzählen Legenden aus der georgischen Vergangenheit. Etwa die von den beiden Männern, deren Dorf überfallen wurde: Alle Kinder wurden entführt, die Frauen geschändet. Zwei Jahre lang belagerten die beiden Männer das Dorf der Feinde von einem Turm aus, in den sie zuvor heimlich Waffen und Proviant geschafft hatten. Als sie kurz davor sind das Dorf zu erobern, heben die Feinde einen Graben um den Turm aus und zünden das Versteck an. Die beiden Männer sterben den Heldentod.

    Aus den überlieferten Liedern haben sich auch folkloristische Tänze entwickelt, die heute ebenfalls bewahrt werden. Auffällig wirkt dabei die Trennung zwischen männlicher und weiblicher Kulturtradition; dass die Mädchen in einer Tanzschule auch Jungentänze aufführen, finden sie sehr irritierend. Und ein junges Mädchen sagt sogar: „Wenn eine Frau im Haus ist und der Mann den Boden wischt, dann ist der Mann einfach... blöd.“ Und das obwohl die Frauen ihr Leben auch selbst in die Hand nehmen. Olshan zeigt eine der selbstbewussten Frauen, die drei Jobs in drei verschiedenen Städten hat, sich um ihre Kinder kümmern muss und als Ausgleich in ihrer Freizeit singt.

    Neben den Bewahrern der kulturellen Tradition zeigt „Wie Luft zum Atmen“ auch Musiker, die sich bemühen, die überlieferte Musik in moderne Musikformen wie Jazz oder Pop zu überführen. Und Kameramann Marcus Winterbauer gewährt uns durch seine Bilder einen Einblick in die wilde Landschaft Georgiens, die er immer wieder in überaus ästhetischen Bildern einfängt. Aber er zeigt uns auch das über Nacht stillgelegte Zementwerk in Rustawi und fährt mit seiner Kamera an einer Front von verfallenen, trostlos wirkenden Gebäuden entlang. Tradition und Moderne, atemberauende Landschaft und wirtschaftlicher Kollaps – zwischen diesen Polen suchen die Georgier eine Identität in ihrer Musik.

    Sieht man Olshans Dokumentarfilm, werden Erinnerungen an Fatih Akins Musik-Dokumentation Crossing The Bridge - The Sound Of Istanbul von 2005 wach, die insgesamt etwas lebendiger geworden ist. Akin geht bei seiner musikalischen Reise durch Istanbul zwar mehr in die Breite als in die Tiefe, hat seinen Film aber ansprechender und zugänglicher inszeniert. Was Ruth Olshans Dokumentation aber trotzdem sehr gelungen werden lässt, sind in erster Linie die liebevoll porträtierten Menschen, deren gemeinsame Verstrickung in den trostlosen Alltag und das Aufleben in der Musik plastisch geschildert wird. Als am Ende eine Gruppe Frauen an einem Fluss einen Choral singt, kann der Zuschauer die verbindende und Trost spendende Kraft der Musik auf der Leinwand knistern hören. Der poetische Blick von Winterbauers Kamera fängt das Blitzen der letzten Sonnenstrahlen ein und holt jede der Sängerin in einer Nahaufnahme ins Bild, bevor er eine Halbtotale der Gruppe entwirft. Der soziale Aspekt der Musik für die Einwohner Georgiens, den uns die ganze Dokumentation eindrücklich vermittelt hat, wird so in einem wunderbarem Kino-Moment emotional nachvollziehbar gemacht.

    Produziert wurde „Wie Luft zum Atmen“ von „Aquafilm“ in Zusammenarbeit mit dem ambitioniertem Fernsehsender „arte“, dessen (Qualität versprechendes) Logo man während der ganzen Spiellänge in der rechten oberen Ecke förmlich spüren kann. Und das ist auch gut so.

    Möchtest Du weitere Kritiken ansehen?
    Das könnte dich auch interessieren
    Back to Top