Wir sind heutzutage „daueronline“, Flatrates sind eine Selbstverständlichkeit und mit Smartphone, Tablet oder Netbook werden zu jeder Zeit und von überall Emails gecheckt, Nachrichten gelesen, Spiele gezockt und der Facebook-Status abgerufen. In diesem Sinne sind wir ständig miteinander verbunden, also „connected“, doch Skeptiker beklagen, dass bei diesem Rückzug in die virtuellen Welten der Chatrooms und des Instant Messagings, die „wirkliche“ persönliche Kommunikation auf der Strecke bliebe. Mit der klaren Aufforderung „Disconnect“ schon im Filmtitel schlagen Drehbuchautor Andrew Stern und Regisseur Henry Alex Rubin in eben diese Kerbe. Sie zeigen die Schattenseiten der schönen neuen Netzwelt und erzählen davon, welche fatalen Folgen es haben kann, wenn Internet-Kriminalität und mangelnde Kommunikation aufeinandertreffen. Das Episodendrama ist bisweilen etwas zu offensichtlich angelegt und plump überdramatisiert, die Verknüpfung der einzelnen Geschichten wirkt zuweilen gezwungen, insgesamt überzeugt der Film aber vor allem dank der erstklassigen Schauspieler.
Cindy (Paula Patton) und Derek Hull (Alexander Skarsgård) reden seit dem Tod ihres kleinen Babys kaum mehr ein Wort miteinander. Sie sucht Trost in Internet-Chatrooms, er schlägt die Zeit mit kostenpflichtigen Online-Spielen tot. Als sie merken, dass jemand all ihre persönlichen Daten geplündert und ihr Konto leergeräumt hat, müssen sie sich gemeinsam damit auseinandersetzen und engagieren den Ex-Cop Mike Dixon (Frank Grillo). Der verwitwete Privatdetektiv ist zwar ein Top-Spezialist für Netzkriminalität, doch er ahnt nicht, was sein Sohn Jason (Colin Ford) treibt. Der Sprössling nimmt gemeinsam mit seinem Kumpel Frye (Aviad Bernstein) mit einem Fake-Facebook-Profil Mitschüler Ben (Jonah Bobo) aufs Korn. Bens Eltern Lydia (Hope Davis) und Rich Boyd (Jason Bateman) ahnen nichts von dem Cyber-Mobbing und den Sorgen ihres Sohnes, auch weil Anwalt Rich rund um die Uhr am Handy hängt, um sich um seine wichtigen Mandanten zu kümmern. Zu denen gehört auch die lokale TV-Station, bei der die erfolgreiche Reporterin Nina Dunham (Andrea Riseborough) arbeitet. Die stößt bei ihren jüngsten Recherchen auf Kyle (Max Thieriot), der sich bei einem Online-Prostitutionsring verdingt und sich vor einer Webcam für zahlende Kundinnen auszieht und sexuell stimuliert. Fasziniert plant Nina eine große Story, an der bald nicht nur CNN, sondern auch das FBI Interesse hat.
Nach der Co-Regie bei zwei vieldiskutierten Dokumentationen („Who Is Henry Jaglom?“, „Murderball“) gibt Henry Alex Rubin mit „Disconnect“ sein Spielfilmdebüt. Er bewegt sich dabei auf den Spuren von Larry Clark, vor allem die ersten Minuten erinnern stark an das Werk des Regisseurs von so aufsehenerregenden Filmen wie „Kids“ und „Ken Park“. Mit ihnen teilt „Disconnect“ den dokumentarisch anmutenden Look, der durch die Grobkörnigkeit und verblassten Farben der Bilder von Handkamera-Spezialist Ken Seng („Project X“, „Quarantäne“) noch verstärkt wird. Auch Rubins Protagonisten könnten auf den ersten Blick direkt aus Clarks Universum stammen, lernen wir doch in den Eröffnungsminuten mit Jason und Frye zwei jugendliche Skater, die Schabernack treiben, und mit Kyle einen weiteren Jugendlichen, der durch ein heruntergekommenes Haus läuft, in dem sich allerlei Minderjährige vor Webcams ausziehen, kennen. Im Anschluss erweitert Rubin dann nach und nach den erzählerischen Fokus und siedelt das Geschehen stärker in der bürgerlichen Mittelschicht an. Gerade in dieser vermeintlich heilen Welt, wo alles in bester Ordnung sein sollte, liegt vieles im Argen: Rubin verdeutlicht, dass die von der Anonymität geförderte Entfremdung und die Verrohung der Sitten im „Netz“ Hand in Hand mit einem regelrechten kommunikativen Notstand im realen Alltag geht: Die Frage „Can we just talk?“, „Können wir uns einfach nur unterhalten?“, ist nicht zufällig einer der ersten Sätze, die im Film fallen.
Die persönliche Unterhaltung von Angesicht zu Angesicht steht bei Rubin in sichtbarem Kontrast zu den kalt leuchtenden Eingaben der Protagonisten bei ihren Computer-Chats. Wenn er uns die getippten Worte groß auf der Kinoleinwand zeigt, dann wirkt die Internet-Kommunikation wie ein fehler- und täuschungsanfälliger Datenaustausch ohne Sinnlichkeit, Persönlichkeit und Menschlichkeit. Der Regisseur nimmt nicht nur die verschiedenen Formen der Kommunikation in den Blick, sondern auch ihre Bedingungen: So kann Nina ihre TV-Reportage nur realisieren, weil Kyle ihr vertraut und sich ihr öffnet, also mit ihr redet. Das Ehepaar Hull dagegen spricht nicht mehr miteinander, sie vertraut sich stattdessen einem Fremden im Internet-Chat an. Außenseiter Ben blüht auf, als er anfängt mit seiner vermeintlichen Internet-Freundin zu chatten, später hat auch sein Vater Kontakt mit ihr und lernt so die Gedanken seines entfremdeten Sohns kennen. Sie beide ahnen nicht, dass auf der anderen Seite mit Jason ein Junge sitzt, der später geplagt von Schuldgefühlen die eigene gestörte Vater-Sohn-Beziehung verarbeitet. Rubin und Stern treiben die Konsequenzen dieser gestörten Kommunikationen im überdeutlichen Finale auf die Spitze: Wenn die Protagonisten meinen, dass die Zeit des Redens (die es allerdings nie gab) vorbei ist und sie nun handeln müssen, kommt es in einer Zeitlupen-Parallelmontage der Auflösungen der verschiedenen Handlungsstränge zu handfesten Konfrontationen.
Subtilität ist Rubin dabei zwar eindeutig fremd, aber er setzt so klare Ausrufezeichen. Immer wieder unterstreicht er die Kommunikationsstörungen auch visuell durch ein Hindernis im Bild oder indem er die Kamera durch ein Fenster blicken lässt. Geradezu didaktisch wird es, wenn Rubin das Bild just in dem Moment einfriert, in welchem ein von einem eigentlich besonnenen Erwachsenen geführter Eishockeyschläger in Richtung des Kopfes eines kleinen Jungen saust. „Disconnect“ ist allerdings trotz der sehr dick aufgetragenen Botschaft und dem altbekannten Problem vieler Episodenfilme, dass nicht alle Geschichten gleich fesselnd sind, sehenswert. Das ist in erster Linie der bis in kleinste Nebenrollen beeindruckenden Besetzung zu verdanken, insbesondere die Jungdarsteller um den herausragenden Nachwuchsakteur Colin Ford („Wir kaufen einen Zoo“) hinterlassen einen bleibenden Eindruck. Auch die Entscheidung, einige Stars bewusst gegen ihr Image zu besetzen, macht sich bezahlt: So spielt Sexsymbol Alexander Skarsgård („True Blood“) den höchst biederen Ehemann und der oft in komischen Parts zu sehende Jason Bateman („Voll abgezockt“) macht die Verzweiflung und Hilflosigkeit seiner Figur mit eindrucksvollem Minenspiel deutlich. Die Geschichte von Andrea Riseboroughs („W.E.“) Reporterin und des von Max Thieriot („Bates Motel“) gespielten Stricherjungen und ihrer unwahrscheinlichen Faszination füreinander lebt unterdessen von der Überzeugungskraft der hervorragend harmonierenden Schauspieler.
Fazit: „Disconnect“ ist ein bisweilen etwas dick aufgetragenes, aber hervorragend gespieltes Drama über Internetkriminalität und mangelnde Kommunikation.