Im Vorspanntext seines nach eigenem Bekunden letzten Films beschreibt der 1955 in Ungarn geborene Regisseur Bela Tarr eine Anekdote, die sich am 3. Januar 1889 zugetragen haben soll. Friedrich Nietzsche beobachtet einen Kutscher dabei, wie er die Geduld verliert und auf sein störrisches Pferd eindrischt. Um dem brutalen Treiben ein Ende zu bereiten, wirft sich der Philosoph dem Pferd um den Hals. Die folgenden zwei Tage liegt Nietzsche ohne etwas zu sagen auf dem Sofa, bevor er seine letzten Worte spricht und die verbliebenen zehn Jahre seines Lebens stumm und wirr unter der Aufsicht von Mutter und Schwester verbringt. Aber das sakral aufgeladene Schwarz-Weiß-Drama „Das Turiner Pferd" handelt nicht etwa vom Niedergang des berühmten Philosophen, sondern vom Kutscher und seinem Pferd. In sechs Kapiteln, die jeweils einem Tag entsprechen, zeigt Bela Tarr einen quälend eintönigen und harten Alltag, der aber trotz der grandiosen Kameraarbeit von Fred Kelemen auch auf das Publikum recht quälend und eintönig wirkt.
Am ersten Tag kehrt der Kutscher (Janos Derzsi), dessen rechter Arm schon lange steif ist, mit seinem Wagen von einer Fuhre nach Hause zurück. Das kleine, karg eingerichtete Haus liegt mitten in einem Tal, durch den ein schrecklicher Orkan fegt. Die Tochter (Erika Bok) hilft ihrem Vater beim Wegstellen der Kutsche. Er schläft, sie kocht Kartoffeln. Am zweiten Tag bleibt das Pferd stur, der Kutscher kann nicht losreiten. Stattdessen hackt er Holz. Seine Tochter kocht Kartoffeln und starrt aus dem einzigen Fenster. Der Orkan tobt noch immer. Am dritten Tag ist ans Kutschieren nicht zu denken, die Stute hat aufgehört zu fressen. Es gibt Kartoffeln, wie immer für jeden genau eine. Es fühlt sich an, als sei der Orkan noch heftiger geworden. Am vierten Tag ist das Wasser aus dem Brunnen vor dem Haus verschwunden. Am fünften Tag gibt es kein Licht mehr auf der Welt und auch Feuer lässt sich nicht mehr machen. Die Kartoffeln bleiben roh...
Gleich die erste Einstellung dauert mehrere Minuten. Die Kamera umkreist das sich abrackernde Pferd, den antreibenden Kutscher und die im unwegsamen Gelände nur sehr langsam vorankommende Kutsche. Das sich ständig wiederholende Orgelthema und der immer präsente Orkan vermitteln dem Zuschauer ein Gefühl, als würde der Weltuntergang unmittelbar bevorstehen. Zugleich ist das Leben des Kutschers und seiner Tochter aber so karg und von den Umständen fremdbestimmt, dass man sich schon fragt, ob ein Weltuntergang nicht vielleicht sogar für alle das Beste wäre. In dieser wiederholten, sich nur in Nuancen unterscheidenden Beschreibung des Alltags ähnelt der Film übrigens ein wenig Michael Hanekes „Der Siebente Kontinent", in dem eine Familie drei fast identische Tage verlebt und am Ende des dritten Tages aus dem Nichts heraus Selbstmord begeht.
Hinzu kommen bei „Das Turiner Pferd" noch einige biblische sowie philosophische Querverweise, etwa in Form eines Nachbarn, der eigentlich nur Schnaps holen will, sich dann aber zu einem ausführlichen Monolog über den Kampf des Noblen gegen das Böse hinreißen lässt. Für das Publikum ist dieser episch zelebrierte Zerfall - auch wenn die 146 Minuten von „Das Turiner Pferd" im Vergleich zu den 7 ½ Stunden von Bela Tarrs bekanntestem Werk „Satanstango" geradezu gnädig erscheinen – mitunter allerdings eine echte Qual, weshalb man gut daran tut, sich vornehmlich an der famosen Kameraarbeit von Fred Keleman („Das Sichtbare und das Unsichtbare") zu ergötzen. Jede Einstellung wirkt wie von einem der großen Meister gemalt, so dass man sie am liebsten abfotografieren und ins Museum hängen möchte. Vom zerfurchten Gesicht des Kutschers bis zu den dampfenden Kartoffeln begegnet Keleman jedem seiner Motive, als würde er ein Stillleben für die Ewigkeit schaffen wollen.
Fazit: In grandiose Schwarz-Weiß-Aufnahmen gehüllte, aber schrecklich anstrengende Fatalismusstudie, die es mit ihrer Unzugänglichkeit auch bei der Berlinale-Jury gegenüber gefälligeren Werken schwer haben dürfte.