Der im Panorama der 60. Berlinale uraufgeführte Low-Budget-Dokumentarfilm „Postcard to Daddy" verlangt dem Zuschauer auf sehr direkte Weise einiges ab. Michael Stock („Prinz in Hölleland") – heute 42 Jahre alt – konzipierte den Film als Botschaft an seinen Vater, von dem er in seiner Kindheit mehrfach sexuell missbraucht wurde. Dabei verkürzt er seine Videobotschaft nicht auf eine reine Anklage oder Bloßstellung des Täters, sondern unternimmt vielmehr den gut austarierten Versuch einer ehrlichen Bewältigung des Traumas. Thematisch und stilistisch erinnert Stocks Film an den ähnlich gelagerten Dokumentarfilm „Wenn einer von uns stirbt, geh ich nach Paris", wobei er dramaturgisch und ästhetisch reifer erscheint.
Eine fünfköpfige Mittelschichts-Familie im Schwarzwald: Mutter und Vater, zwei Jungs und ein Mädchen. Ausgehend von alten Familienfotos zeichnet „Postcard to Daddy" ein Bild dieser scheinbar ganz normalen, unauffälligen Familie. Doch Michael, der jüngste Sohn, wird vom achten bis zum sechzehnten Lebensjahr von seinem Vater sexuell missbraucht. Niemand bekommt etwas davon mit, die eigene Familie nicht und erst recht kein Außenstehender. Mit der Mutter, die den Vater schon verlassen hatte bevor sie die Wahrheit erfuhr, begibt sich Michael Stock auf eine Reise nach Thailand und arbeitet die traumatischen Erlebnisse auf. In ausführlichen Interviews mit der Mutter und seinen beiden Geschwistern, an denen der Vater sich nicht vergangen hat, wirft Stock einen ehrlichen, mitunter schwer erträglichen Blick auf das dunkle Familienkapitel. Und am Ende spricht dann sogar der Vater selbst.
In erster Linie interessiert sich Michael Stock in „Postcard to Daddy" für die Auswirkungen des Missbrauchs auf sein eigenes weiteres Leben, das bis zum heutigen Tag wesentlich von den damaligen Ereignissen geprägt ist. Die Motive des Vaters und die Umstände, die das Vergehen ermöglichten, spielen eine untergeordnete Rolle: Stock fragt nicht nach dem Warum, sondern er benennt die unmittelbaren und mittelbaren Folgen des Missbrauchs – er fragt also: Was dann? Wie damit umgehen? Er betrachtet dabei nicht nur seine eigene, ganz persönliche Situation, sondern erweitert die Perspektive auch auf seine Geschwister: Die Schwester brach den Kontakt zum Vater gänzlich ab, der Bruder distanzierte sich, hält den Kontakt aber noch aufrecht. Die Mutter schließlich, von Anfang an zentraler Bezugspunkt und Stütze bei der Aufarbeitung (der Sohn vertraute sich ihr mit 19 Jahren an), arbeitet heute in einer Beratungsstelle für Missbrauchsopfer.
Der Ton, den Michael Stock bei alldem anschlägt, ist bemerkenswert: Frei von jeder Verachtung für den Täter und fern jedweder Stigmatisierung erzählt er unaufgeregt, still und konzentriert. Stock nähert sich dem schwierigen Thema sehr behutsam, um es dann schließlich ausführlich und schonungslos, aber keinesfalls reißerisch oder einseitig zu umkreisen. Dabei ist die formale Umsetzung jederzeit der inhaltlichen Auseinandersetzung untergeordnet. Der Filmemacher Stock setzt auf schnörkellose Unmittelbarkeit und verzichtet auf alles Aufdringliche und Effekthascherische.
Michael Stock versteht das Filmprojekt als Teil eines Heilungsprozesses, insofern ist „Postcards to Daddy" auch eine Maßnahme zur Selbsttherapie. Letztlich geht es für Stock darum, mit sich selbst ins Reine zu kommen und einen Weg zu finden, mit der eigenen Scham umzugehen. Auch eine Aussöhnung mit dem Vater strebt er dazu an. Dass der Filmemacher diese Annäherung an die eigene Kindheit und die Beziehung zum Vater ausgerechnet in Form eines Kinofilms – in aller Öffentlichkeit also – unternimmt, erscheint durchaus streitbar. Totgeschwiegen werden sexuelle Übergriffe durch Familienmitglieder allerdings häufig genug und somit ist „Postcard to Daddy" nicht nur ein sehr persönliches und beklemmendes Dokument, sondern zugleich auch ein gesellschaftlich absolut relevantes öffentliches Zeugnis zu einem Tabuthema.