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    J. Edgar
    Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
    4,0
    stark
    J. Edgar
    Von Andreas Staben

    J. Edgar Hoover war unglaubliche 48 Jahre lang der Chef der US-amerikanischen Bundespolizei FBI, er erlebte in seiner Amtszeit acht verschiedene Präsidenten mit ganz unterschiedlichen Überzeugungen. Keiner von ihnen konnte dem streitbaren Beamten Hoover etwas anhaben, und so hieß es in den Fluren Washingtons hinter vorgehaltener Hand, dass der FBI-Direktor der in Wirklichkeit mächtigste Mann des Landes sei. Das Wirken des Konservativen und Kommunistenhassers ist bis heute höchst umstritten, sein Privatleben legendenumrankt. Ganz nach dem Muster der berüchtigen Geheimakten mit belastenden Informationen, die Hoover über politische Gegner, persönliche Konkurrenten und andere unliebsame Personen führte, ließe sich aus der Verfilmung seiner Lebensgeschichte ohne Probleme eine saftig-spekulative Skandalchronik basteln. Drehbuchautor Dustin Lance Black und Regisseur Clint Eastwood setzen in ihrem klugen Biopic „J. Edgar" aber lieber auf einen zurückhaltenderen Ansatz. Sie fällen keine Urteile über Hoover, sondern legen offen, wie diese zustandekommen. In einem über fast sechs Jahrzehnte gespannten Bogen stellen sie Hoovers eigener Sicht auf die Dinge äußerst wirksam verschiedene andere Perspektiven gegenüber und geben noch einen gesunden Schuss Fantasie dazu: Aus dieser Reibung entsteht ein vielschichtiges und absolut plausibles Porträt einer rätselhaften Persönlichkeit, die in der fabelhaft-facettenreichen Darstellung von Leonardo DiCaprio mit all ihren Widersprüchen lebendig wird.

    In den 1960er Jahren: Der FBI-Direktor J. Edgar Hoover (Leonardo DiCaprio) diktiert dem jungen Agenten Smith (Ed Westwick) seine Erinnerungen. Er beginnt mit seiner Anfangszeit bei der Vorgängerbehörde des FBI 1919 und mit dem Anschlag auf das Wohnhaus von Hoovers Vorgesetztem Mitchell Palmer (Geoff Pierson) durch einen kommunistischen Aktivisten. Hoover profiliert sich schnell als systematisch vorgehender und unerbittlicher Gegner der Linken und steigt zum Chef der Behörde auf, die er zielstrebig modernisiert. Unterdessen wohnt er immer noch mit seiner dominanten Mutter Anne (Judi Dench) zusammen, und eine Verabredung mit der Sekretärin Helen Gandy (Naomi Watts) endet mit der Zurückweisung seines übereilten Heiratsantrags. Statt sie zur Frau zu nehmen engagiert Edgar Helen als seine persönliche Assistentin, die ihm bis zum Lebensende treu zur Seite steht – genau wie der attraktive Clyde Tolson (Armie Hammer). Der wird zur rechten Hand und zum engsten Vertrauten des Direktors, isst jeden Tag mit ihm zu Mittag und fährt mit ihm in den Urlaub. Er ist dabei, als Hoover die aufsehenerregende Entführung des Lindbergh-Babys 1932 nutzt, um die Kompetenzen des FBI zu erweitern sowie moderne Ermittlungsmethoden einzuführen, und er ist auch dreißig Jahre später noch an der Seite des paranoiden Partners, als der einen Kleinkrieg mit den Kennedy-Brüdern führt...

    Hoover wird einmal von einem der Agenten, die seine Memoiren schreiben, gefragt, was wichtiger sei: das Vermächtnis und die Interessen eines einzelnen Mannes oder der gute Ruf und die Integrität einer Institution? Diese Kernfrage entpuppt sich als Leitmotiv der Erzählung, Hoovers Diktate dienen dabei als Klammer für Rückblenden, die mehr als ein halbes Jahrhundert umfassen. Von seinem strengen Umgang mit den Angestellten („Ein FBI-Agent trinkt keinen Alkohol") über seine Förderung forensischer Ermittlungsmethoden und die Einführung einer zentralen Fingerabdruckdatei bis zu seinen taktisch eingesetzten Akten mit Indiskretionen über Eleanor Roosevelt, John F. Kennedy und Martin Luther King werden viele wichtige Etappen und Einzelheiten aufgegriffen, dabei setzen Eastwood und Black aber klare Akzente (die berüchtigte Kommunistenhatz mit Senator Joe McCarthy etwa, den Hoover verächtlich als Opportunisten abtut, ist ihnen kaum einmal eine Randnotiz wert). Stets geht es um den Widerspruch zwischen dem gewieften Selbstdarsteller und Machtjongleur sowie dem im Innersten verunsicherten Muttersöhnchen, das sich in einem Netz aus Lebenslügen verstrickt hat. Mit einem eleganten erzählerischen Kniff erinnert uns Eastwood am Ende an die Subjektivität vermeintlich unerschütterlicher Wahrheiten und gibt dem historischen Drama zugleich eine menschliche Dimension.

    Genau auf dieser zwischenmenschlichen Ebene hat „J. Edgar" seine größten Stärken. Hoover ist es gelungen, sein Privatleben geheimzuhalten und so gibt es keine eindeutigen Beweise für seine Homosexualität oder für seine oft kolportierte Neigung zum Tragen von Frauenkleidern, aber Dustin Lance Black, der für seine Arbeit über den offen schwulen Politiker „Milk" einen Oscar gewann, entwirft ein schlüssiges Psychogramm. Da ist ein junger Mann, der sein Date (unterbeschäftigt: Naomi Watts) in die Bibliothek schleppt, um ihm sein neues Katalogsystem zu präsentieren und der bei anderer Gelegenheit einfach wegläuft, als ihn eine Frau zum Tanzen auffordert. Dazu kommt eine unnachgiebige Mutter (eiskalt nur das Beste wollend: Judi Dench), die ihren Schwulenhass nicht verbirgt, während ihr Sohn sich unübersehbar zu Clyde hingezogen fühlt, diese Emotionen aber nicht zulassen kann. In einer bewegten und bewegenden Szene kommt es doch einmal zum Ausbruch der Gefühle zwischen Clyde und Edgar, die in eine Rauferei irgendwo zwischen aggressivem Frustabbau und sublimierter Zärtlichkeit mündet – und mit einem erstickten „Ich liebe dich" auf den Lippen des zurückgelassenen Leonardo DiCaprio endet. Er legt Hoover weniger als schillernden Exzentriker an (wie sein Howard Hughes in „Aviator" einer war), sondern macht aus ihm bis in die Sprechweise hinein einen zwanghaft um Kontrolle kämpfenden Getriebenen. Armie Hammer („The Social Network") als selbstsicherer und verständnisvoller Clyde ist dazu die ideale Ergänzung – zusammen sind sie eins der schönsten und traurigsten Leinwand-Liebespaare dieses Kinojahrgangs.

    Schon in seinem Mandela-Film „Invictus - Unbezwungen" zeigte uns Clint Eastwood, dass ihn das Individuelle und das Intime einer Geschichte mehr interessiert als die große Historie. So ist sein Hoover ähnlich wie Oliver Stones „Nixon" fast eine tragische Figur und dennoch auch ein politisches Monstrum, dessen Kontrollzwang und Egomanie in letzter Konsequenz die Demokratie selbst gefährden. Damit fügt sich „J. Edgar" nahtlos in die Reihe der skeptischen, aber nicht hoffnungslosen Eastwoodschen Gesellschaftsstudien wie „Mystic River" und „Flags of Our Fathers" ein. Erdrückende Dekors, strenge Garderobe und die reduzierte Palette gedämpfter Farben, die wir von Eastwood-Stammkameramann Tom Stern (Oscar-Nominierung für „Der fremde Sohn") schon kennen, all das wird zum Teil von Hoovers Bürokratenwelt voller unausgesprochener Geheimnisse, zurückgehaltener Informationen und unterdrückter Gefühle. Aber wenn Leonardo DiCaprio und Armie Hammer, die sich in den späten Szenen kaum wiedererkennbar auch noch einer dicken Schicht Alters-Make-Up erwehren müssen, ein letztes Mal zusammen essen, dann ist ganz klar: Die Mächtigen sind auch nur Menschen – wir müssen sie nur immer wieder daran erinnern.

    Fazit: „J. Edgar" ist eine hervorragend inszenierte und einfühlsam gespielte Film-Biografie, in deren Herzen sich eine bewegende Liebesgeschichte verbirgt. Clint Eastwood zeigt einmal mehr, dass er sich wie kaum ein zweiter auf gleichermaßen intelligentes wie unterhaltsames Qualitäts-Kino versteht.

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