Kritik der FILMSTARTS-Redaktion
3,5
gut
Nachmittage der Einsamkeit

Ein schonungsloser Blick auf eine blutige Tradition

Von Ulf Lepelmeier

Der katalanische Filmemacher Albert Serra hat sich längst einen Namen als kompromissloser Auteur gemacht. Seine Werke verweigern sich herkömmlichen Dramaturgien, setzen auf lange Einstellungen und einen kontemplativen Blick auf Geschichte, Macht und Vergänglichkeit. Ob in „Der Tod von Ludwig XIV.“ oder „Pacifiction“ – Serra dekonstruiert Narrative, indem er sie mit geduldiger Stille, unaufgeregten Beobachtungen und künstlerischer Radikalität auflädt. Mit „Nachmittage der Einsamkeit“ setzt er diesen Ansatz fort und wagt sich an ein ebenso traditionsreiches wie umstrittenes Thema: den Stierkampf.

Der Dokumentarfilm, der bei seiner Weltpremiere im Wettbewerb des Filmfestivals San Sebastián mit dem Hauptpreis (Goldene Muschel) ausgezeichnet wurde, bewegt sich an der Schnittstelle zwischen dokumentarischer Präzision und cineastischer Meditation. Ohne Voiceover, erklärende Zwischentitel oder einen wirklichen Spannungsbogen zeigt Serra die Welt der Toreros in immer poetischen, aber teils auch extrem verstörenden Bildern.

Schon das Anlegen der traditionellen Kleidung ist ein ausschweifendes Ritual. Filmgalerie 451
Schon das Anlegen der traditionellen Kleidung ist ein ausschweifendes Ritual.

„Nachmittage der Einsamkeit“ begleitet den gefeierten peruanischen Matador Andrés Roca Rey beim ritualisierten Ankleiden in seine kunstvoll bestickte, mit Pailletten besetze Kleidung; beobachtet ihn, wenn er mit seinem Torero-Team zur Stierkampfarena fährt und sich schließlich selbst bei der direkten Konfrontation mit den Stieren in Lebensgefahr begibt. Als Matador ist er der Haupttorero, auf den alle Augen gerichtet sind, wenn er um den Stier tänzelt, um ihn im großen Finale des Kampfes mit einem Degen zu töten. Serra lässt das Prozedere aus Ankleiden, Autofahrten zu den Arenen, den Einzelschritten der Stierkämpfe und der Rückfahrten wie in einem Loop immer wiederkehren. Aufgeladen mit Religiosität, Tradition und Blut lässt der Film sein Publikum in eine Welt eintauchen, die seit Jahrhunderten existiert und zumindest seit Jahrzehnten heftig umstritten ist.

„Nachmittage der Einsamkeit“ glorifiziert den Stierkampf nicht, verurteilt ihn aber auch nicht explizit. Serra interessiert sich vielmehr für die Details des Rituals. Ohne wertenden Kommentar zeigt er, wie sich der Stierkampf aus religiösen und machistischen Strukturen speist: Die Arena wird zur sandigen Bühne eines blutigen Spektakels, in dem Männlichkeit, Mut und Dominanz zelebriert werden, in einer sonderbaren Ästhetik, die an sakrale Rituale erinnert.

Erst glitzernd, dann blutig

So wie auch das Ankleide-Prozedere des Matadors: Der junge Mann wird in seinen glitzernden, hautengen Anzug gehoben, gezerrt und geschnürt – ein Vorgang, der an das Anlegen eines Korsetts in früheren Zeiten erinnert. Dabei küsst Roca Rey ehrfürchtig ein Madonnenbildnis und einen Rosenkranz, den er sich umlegt. Erst wenn der Matador nach dem Kampf seine blutgetränkte Kleidung wieder ablegen kann, hat er seine Prüfung überstanden. Ein weiteres Mal ist er dem Stier entkommen und wird von seinen Teammitgliedern als übermenschlicher Held gefeiert.

Die Darstellung der Stiere ist dabei ebenso bedeutungsvoll aufgeladen wie die des Matadors: In den eröffnenden langen Einstellungen des Filmes fokussiert der Regisseur die Augen der Tiere, ihr nervöses Schnauben, zeigt ihre ungeheure Kraft und Verletzlichkeit zugleich. Während des gesamten Films bleibt die Kamera ganz nah an den Tieren und Andrés Roca Rey, ohne jemals die Dimensionen der Stierkampfarenen oder des Publikums zu offenbaren. Trotzdem ist das laute Klatschen der aufgeregten Zuschauer omnipräsent, wenn der als „Messi der Toreros“ gefeierte Matador den Stier anstachelt und dieser so nah an ihm vorbeistreift, dass dessen herabströmendes Blut seine glitzernde Montur rot einfärbt.

Kulturelle Tradition oder grausames Relikt – Albert Serra überlässt es dem Publikum, sich ein Urteil zu fällen. Filmgalerie 451
Kulturelle Tradition oder grausames Relikt – Albert Serra überlässt es dem Publikum, sich ein Urteil zu fällen.

Die Kamera ist nur an Roca Reys und dem blutrünstigen Kampf interessiert, der immer erst beginnt, wenn die massigen Tiere durch das Torero-Team mittels Speerstoß und Zangen mit Widerhaken in einen kritischen Zustand versetzt wurden. So unmittelbar und intensiv Serra diese Konfrontationen auch einfängt, hält er doch zu lange an der immer wiederkehrenden Abfolge an Szenen fest. „Nachmittage der Einsamkeit“ fängt so einen Ort ein, an dem sich körperliche Kraft, Inszenierung und tödliche Konsequenzen untrennbar miteinander verbinden. Der Film zeigt, wie die kraftstrotzenden Stiere und die festlich gekleideten Toreros aufeinandertreffen – in eindringlichen Kämpfen, deren Ausgänge von Anfang an besiegelt sind.

Die Zuschauer*innen werden ohne erklärende Zwischentöne auf ihre eigene Wahrnehmung zurückgeworfen. Ist der Stierkampf ein grausames Relikt der Vergangenheit oder eine lebendige, in der spanischen Kultur verwurzelte Tradition? Serra gibt keine Antworten, sondern konfrontiert sein Publikum mit der rohen Realität der Kämpfe – von den stillen, fast meditativen Momenten der Vorbereitung bis zu den brutalen Tötungen der Tiere und der Zurschaustellung von ihren abgeschnittenen Ohren.

Fazit: „Nachmittage der Einsamkeit“ ist kein Film für jedermann, zu kompromisslos verweigert sich Serra einer Einordnung, zu unerbittlich und mit (zu) vielen sich wiederholenden Stierkämpfen blickt er auf ein kontroverses Ritual. Er illustriert die Faszination des tödlichen Kampfes – ohne Einordnung, ohne Distanzierung, aber auch ohne Verklärung. Statt einer moralischen Haltung präsentiert Albert Serra eine rohe, unverfälschte Beobachtung und fordert das Publikum heraus, sich selbst mit dem Gesehenen auseinanderzusetzen.

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