Der semi-fiktionale Dokumentarfilm „La Bocca Del Lupo" des italienischen Regisseurs Pietro Marcello ist ungemein schwer zu fassen. Zunächst erzählt er die Geschichte von Enzo, der nach Jahren im Gefängnis in seine Heimatstadt Genua zurückkehrt, um seine während der Haft gefundene Liebe, die Transsexuelle Mary Monaco, wiederzusehen. Daneben erzählt „La Bocca Del Lupo", der auf der Berlinale 2009 den Caligari-Filmpreis und den queeren Teddy-Award für den besten Dokumentarfilm gewann, vom Niedergang der einst florierenden Hafenstadt Genua, deren Hafenviertel im Lauf des vergangenen Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung verlor und verfiel. Diese beiden Geschichten stellt Pietro Marcello, der auch die Kamera führte, nebeneinander, lässt sie sich überlagern und gegenseitig kommentieren, wobei über die gesamte Spieldauer ein überaus artifizieller, assoziativer und beinahe lyrischer Erzähl- und Inszenierungs-Stil vorherrscht.
Wie verloren schlendert Enzo durch das Hafenviertel Genuas, beharrlich verfolgt von Pietro Marcellos Kamera. Archivaufnahmen aus privatem und öffentlichem Besitz illustrieren immer wieder das alte Genua aus einer Zeit, in der der Hafen als wichtiger Handelsknotenpunkt fungierte und das Viertel um die Anlegestellen der Schiffe dementsprechend belebt war. Heute ist von alldem nur eine leise Ahnung übrig, ein Erinnerungsbild, festgehalten in Liedern und Erzählungen. Mitten in diese eigentümliche, gespenstische Stadtlandschaft kehrt Enzo auf der Suche nach seiner Liebsten Mary zurück. Seine Geschichte ist wirklich passiert, „La Bocca Del Lupo" erzählt sie aber in weiten Teilen anhand eines Drehbuchs, das auf den Erlebnissen Enzos beruht, und findet nur vereinzelt – vor allem gegen Ende – die intimen und unmittelbaren Momente, die man in einem Dokumentarfilm erwarten würde.
Der eigentliche Protagonist von „La Bocca Del Lupo" ist Genua selbst. Die intensivsten Eindrücke hinterlassen die Bilder der nun weitgehend verlassenen Straßen rund um den Hafen und die Archivaufnahmen, die deren blühende Vergangenheit dazu in Kontrast stellen. Ein zentrales Bild ist in diesem Zusammenhang eine Aufnahme, welche die Sprengung alter Fabrikanlagen zeigt: So wie die Türme der Fabrik in sich zusammenstürzen, ist auch das Hafenviertel Genuas zerfallen und verschütt gegangen. In welcher Weise die Liebesgeschichte zwischen Mary und Enzo mit der Historie Genuas in Verbindung steht, macht Pietro Marcello dabei nicht wirklich deutlich: Vielleicht liegt die Verbindung darin, dass Enzo und Mary ebenso wie auch das untergegangene Hafenviertel Genuas eine Außenseiterrolle innehaben. Die im Film mehrfach verwendete Metapher eines Gestrandeten teilen beide – Enzo, der gerade aus dem Gefängnis kommt, und Genua, das am Rande der italienischen Städtegeschichte gestrandet ist.
Was „La Bocca Del Lupo" trotz seiner schweren Zugänglichkeit und der eigenwilligen, fast schon manierierten Erzählweise spannend macht, sind die vielen formvollendeten Bilder, die mit der eigenwilligen Musik und den melancholischen Erzählungen aus dem Off einen filmischen Sog entstehen lassen. Am ehesten ist „La Bocca Del Lupo" wohl als ein dokumentarisches und avantgardistisches Filmgedicht zu beschreiben, von dem für den Zuschauer vor allem Eindrücke übrig bleiben, die kaum mehr in Bezug zueinander gebracht werden können – und die dennoch auf eigentümliche Weise im Gedächtnis haften bleiben.