„Mutually Assured Destruction" (oder im deutschen Sprachgebrauch: „Gleichgewicht des Schreckens") lautete die militärische Doktrin zurzeit des Kalten Krieges, die den Konflikt zwischen den USA und der Sowjetunion weiterhin kalt halten sollte. Die Theorie: Zum nuklearen Erstschlag würde sich keine der Großmächte durchringen, solange mit mutmaßlicher Sicherheit ein ebenso verheerender Vergeltungsangriff folgen würde. Dass eine nukleare Eskalation ganze Länder, im schlimmsten Fall sogar ganze Kontinente entvölkern und auf Zeitalter unbewohnbar machen würde, war Amerikanern und Sowjets gleichermaßen bekannt. Wer nun aber glaubt, dass der Irrsinn nuklearer Drohkulissen nach dem Ende des Kalten Krieges passé sei, wird in Lucy Walkers Dokumentation „Countdown to Zero" eindrücklich eines Besseren belehrt.
Nach der Nobelpreisverleihung an den Klimawandel-Propheten Al Gore („Eine unbequeme Wahrheit") wollte dessen Produzent Lawrence Bender ein weiteres global bedeutsames Thema für die Leinwand aufbereiten: Ausgehend von der Entwicklung der ersten Atombombe während des Zweiten Weltkriegs zeichnet seine britische Regisseurin die Geschichte der weltweiten Nuklearwaffen-Rüstung nach. Unterstützt von altgedienten Staatsmännern wie Jimmy Carter, Michail Gorbatschow oder Tony Blair skizziert Walker drei Szenarien, in denen eine Katastrophe unvermeidlich wäre: Unfall, Fehlberechnung oder Wahnsinn. Walker und die alten Granden der Weltpolitik sind sich schnell einig, dass mit reduzierten oder gar langfristig komplett stillgelegten Atomwaffenbeständen der ganzen Menschheit gedient wäre. Soweit der Konsens.
Wenn die Dokumentaristin ausführt, dass die Herstellung einer Waffe mit der Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe nur etwas mehr als sechs Millionen Dollar kosten würde, dass abgesehen vom hochangereicherten Uran alle dafür benötigten Materialien in jedem Baumarkt verfügbar seien oder dass nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Kartoffeln besser bewacht wurden als spaltbares Material, dann entfaltet „Countdown to Zero" eine unheimliche, immer latent apokalyptische Atmosphäre. Wer eine sogenannte schmutzige Bombe – einen konventionellen Sprengsatz mit radioaktivem Material – basteln wolle, so Walker, der brauche dafür bloß überschaubare Mittel und die richtigen Kontakte.
Walkers lakonische Lektionen in Finsternis werden von prominenten Interview-Partnern bestätigt. Es darf freilich angezweifelt werden, was genau sich hinter dem Bekenntnis des durch einen Militärputsch an die Macht gekommenen pakistanischen Ex-Präsidenten Pervez Musharraf zu einer atomwaffenfreien Welt verbirgt, ist es doch gerade sein Land, das die militärische Unterlegenheit gegenüber Indien mit Massenvernichtungswaffen ausgleicht. Im Sinne ihrer Agenda lenkt Walker geschickt davon ab, dass ein kategorischer Verzicht auf Atomwaffen eine weltweite Übereinkunft im direkten Widerspruch zu den unmittelbaren Sicherheitsinteressen vieler Staaten voraussetzen würde – etwa denen Nordkoreas; ein Land, dem sein nukleares Arsenal als Lebensversicherung gilt. Die Hochspannung zwischen Sicherheitsrealpolitik und Abrüstungsutopie kann auch Walker nicht ableiten, die Standpunkte bleiben weiterhin unvereinbar.
Die Furcht vor einer atomaren Apokalypse jedenfalls dürfte nach „Countdown to Zero" für viele Zuschauer einmal mehr so gegenwärtig werden wie zur Zeit des Kalten Krieges. Für einen gehörigen Schreck sorgt Walker etwa mit einem Beispiel aus dem Jahr 1995: Aufgrund mangelhafter Kommunikation innerhalb des Moskauer Staatsapparates wurde eine von Norwegen gestartete amerikanische Forschungsrakete als Auftakt für einen Erstschlag fehlinterpretiert. Nur der Besonnenheit des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin war es zu verdanken, dass es nicht zur Eskalation kam. Ja, Argumente für eine konsequente, bestenfalls weltweite Abrüstung gibt es auch abseits naiver Utopie zur Genüge. Das einzige Problem: Mit ihrer soliden Dokumentation „Countdown to Zero" doziert Walker effektiv eine Position, von der ihr Publikum aber ohnehin längst überzeugt sein dürfte – nicht umsonst wird „Mutually Assured Destruction" mit MAD (deutsch: verrückt, irrsinnig) abgekürzt.