Bewirbt sich Davis Guggenheim um den Titel des filmischen Gewissens der USA? Nach „Eine unbequeme Wahrheit", seinem Brandbrief zum Thema Klimawandel, zeichnet der Amerikaner mit seinem neuen Dokumentarfilm „Waiting for Superman" ein beklagenswertes Bild des US-Bildungswesens. „One of the saddest days of my life was when my mother told me Superman did not exist. [...] And she thought I was crying because it was like ‘Santa Claus is not real'. I was crying because there was no one coming with enough power to save us," so Geoffrey Canada. Mit der Frage konfrontiert, ob er seine Kinder auf eine staatliche Schule schicken soll, beginnt der Regisseur, sich intensiv mit dem amerikanischen Bildungssystem zu beschäftigen. Der Film folgt Eltern, die ihren Sprösslingen die beste Bildung ermöglichen wollen, die sie sich eben leisten können.
Anthony besucht die fünfte Klasse in Washington D.C. - seit dem Drogentod seines Vaters lebt der Junge bei seiner Großmutter. Emily kommt aus dem wohlhabenden Silicon Valley und sieht dennoch einer ungewissen Zukunft entgegen, weil ihre Lehrer sie nicht für „College-Material" halten. Beim Erstklässler Francisco aus der Bronx wird eine Leseschwäche festgestellt, mit dem Problem aber werden er und seine Eltern allein gelassen. Daisy aus Los Angeles träumt davon, Krankenschwester zu werden. Ihr Vater Jose, wie Daisys Mutter ein Schulabbrecher, glaubt fest daran, dass die Fünftklässlerin ihr Ziel erreichen kann, wenn sie auf die richtige Schule kommt. Und schließlich ist da Bianca aus Harlem, deren alleinerziehende Mutter nur mit Mühe 500 Dollar im Monat aufbringen kann, um ihre Tochter in den katholischen Privat-Kindergarten auf der anderen Straßenseite zu schicken.
In „Waiting for Superman" setzt sich Guggenheim mit Schulreformern auseinander und stellt sogenannte Charter Schools vor, kostenlose staatliche Schulen mit unabhängiger Leitung. Da die Schüler dieser Einrichtungen in Vergleichen überdurchschnittliche Leistungen erbringen, übersteigt die Zahl der Bewerber die der zu vergebenen Plätze um ein Vielfaches. An dieser Stelle fordert das Gesetz eine Lotterie ein. Ein willkürliches und doch faires Verfahren, das über die Zukunft der fünf Protagonisten entscheiden wird. Die dokumentarische Darstellung mag bisweilen etwas theatralisch wirken, doch ist sie dem Ansinnen stets dienlich. Beispielsweise, wenn der Hollywood-erfahrene Guggenheim die abschließende Ziehung um die Schulplätze als dramatischen Höhepunkt in Szene setzt.
Der Regisseur arbeitet weitestgehend ohne die Süffisanz und Polemik eines Michael Moore, doch das Resultat ist dadurch nicht weniger unterhaltsam. Guggenheim konzentriert sich auf seine Gesprächspartner, die er gerne als klaren Bezugspunkt in die Halbtotale setzt, mit unscharfer Umgebung. Guggenheim hat allerdings auch das Glück, mit Bildungsreformern wie Geoffrey Canada und Michelle Rhee besonders charismatische Köpfe vor der Linse zu haben. Eigentlich aber geht es ihm um die Kinder. Wenn Bianca nicht an ihrer Abschlussfeier teilnehmen kann, weil ihre Mutter mit dem Schulgeld im Rückstand ist oder der zehnjährige Anthony ein Wunder beschwört, um nicht wie sein Vater zu enden; wenn der Kamerablick sekundenlang über eine Äußerung hinaus auf diesen Kindern ruht, dann wirkt „Waiting for Superman" emotionalisierend, beschämt und macht wütend.
Taugt „Waiting for Superman" dabei überhaupt für ein deutsches Publikum, wenn doch unser ebenso problembehaftetes Bildungssystem als positives Gegenbeispiel herhält? Auf der anderen Seite des Atlantiks hat sich über die Jahre das Vorurteil festgesetzt, dass Kinder aus sozial- und strukturschwachen Gegenden (in Deutschland „Problemkieze" oder „soziale Brennpunkte" genannt) schlichtweg lernunfähig seien. Und dann sind da noch die kruden Erziehungsmethoden, die Yale-Professorin Amy Chua in ihrem Buch „Battle Hymn of the Tiger Mother" entfaltet und die das amerikanische Selbstverständnis herausfordern. Deren Forderung nach Kasernenhofgehorsam hätte ebenso gut in die hitzige Sarrazin-Debatte im Sommer 2010 gepasst.
Bloß, dies- und jenseits des großen Teichs blieb bisher eine Auflösung aus, die diese Elaborate als bloße Provokation sichtbar machen würde. So ist es sicher kein Zufall, dass vier der von Guggenheim begleiteten Kinder Minderheiten angehören. Gehört „Waiting for Superman" zu dieser Art Film, die ein Thema publik machen, das schließlich doch ungehört verhallen wird? Das wird sich zeigen. Fest steht, dass Davis Guggenheims Werk mehr ist als ein filmischer Stoßseufzer; mehr als falsche Betroffenheit und Sozialkitsch, auf den sich verwandte Arbeiten oft beschränken. Dem Regisseur ist ein ansprechend inszenierter Dokumentarfilm gelungen, der Alternativen aufzeigt, statt nur anzuprangern. Ob der Regisseur selbst noch auf Superman wartet, darf dabei bezweifelt werden - Guggenheims Kinder besuchen eine Privatschule.