Eigentlich ist im Kino alles erlaubt. Eigentlich. Trotzdem bringt jedes Genre seine eigenen impliziten Regeln mit sich, an die sich Filmemacher normalerweise einfach halten oder im besten Fall mit ihnen spielen. So interessant die Ergebnisse bisweilen auch sein mögen, so ist der Reiz doch groß, die Grenzen bis zum Äußersten zu dehnen oder gar zu überschreiten. In diesem Sinne ließe sich der neue Film von Oskar Roehler, „Lulu und Jimi“, als experimentelles Liebesdrama mit komödiantischen Anteilen bezeichnen. Was total unmöglich und verrückt klingt, funktioniert in der Praxis erstaunlich gut und ist vor allem eins: wahnsinnig unterhaltsam!
Der Jahrmarkt ist in der Stadt. Lulu (Jennifer Decker), die sich dort mit ihren Freunden vergnügt, trifft beim Autoskooter auf Jimi (Ray Fearon). Der Funke springt sofort über. Doch Lulu hat Verpflichtungen. Ihre Familie spekuliert darauf, dass sie mit Ernst (Bastian Pastewka) eine Verbindung eingeht, was den positiven Nebeneffekt der finanziellen Sicherung hätte. Als Lulus tyrannische Mutter (Katrin Sass) mitbekommt, dass diese an Jimi interessiert ist, der zudem noch ein „Neger“ ist, setzt sie alles daran, die aufkeimende Liebe zwischen den beiden zu unterbinden. Dazu ist ihr jedes Mittel recht. Sie setzt den Psychiater von Oppeln (Hans-Michael Rehberg) auf Lulu an, der auch schon ihren Vater (Rolf Zacher) „erfolgreich“ behandelt hat. Doch Lulu und Jimi nutzen weiterhin jede Gelegenheit, sich heimlich weiter zu treffen. Zu guter Letzt brennen Lulu und Jimi durch. Ihr Ziel: Amerika. Die Freiheit. Währenddessen setzt Lulus Mutter den Chauffeur der Familie (Udo Kier) und den Profikiller Harry Hass (Ulrich Thomsen) auf die Liebenden an…
Nachdem Schlingensief-Zögling Oskar Roehler in seinem vorherigen Projekt, der Verfilmung des Skandalromans Elementarteilchen von Michel Houellebecq, einmal die Produktionsmaschinerie von Bernd Eichinger durchlaufen hat, findet er mit „Lulu und Jimi“ wieder zu seinen Wurzeln zurück. Vorbei scheint der Ausflug ins Land der Weichspülerei und dem Streben nach Massenkompatibilität ohne Rücksicht auf Verluste. „Lulu und Jimi“ ist kompromissloses Kino à la Roehler. Die roehlersche Klarheit, die er seit der Low-Budget-Produktion „Gentleman“ kultiviert hat, trifft nun jedoch auf surrealistische Elemente.
Roehler macht keinen Hehl daraus, dass er aus dem Werk amerikanischer Vorbilder schöpft, die er einfach gerne mag. In Agnes und seine Brüder machte er Anleihen bei American Beauty – einem Film, der für seine Entwicklung als Filmemacher besonders wichtig war. Roehler selbst bezeichnet seinen neuen Film als eine Hommage an den in seinen Augen bedeutendsten noch lebenden Regisseur – David Lynch. Doch sollte man trotz dieses Eingeständnisses die Analogie Lynch-Roehler nicht zu weit treiben. „Lulu und Jimi“ ist keineswegs die deutsche Version von David Lynchs Kino. Mehr oder weniger direkt zitiert werden Mulholland Drive und Lost Highway. Der auffällige Umgang mit Licht und Farbe ist mehr an Letzteren angelehnt; der Soundtrack, die Kostüme und die Zeit, in der die Handlung spielt, erinnert eher an „Mulholland Drive“. Hinzu kommt eine gehörige Portion Wild At Heart, aus dessen Plot einige Elemente übernommen wurden. Von der überschäumenden, teils mystizistischen Rätselhaftigkeit Lynchs, die seine Werke en gros auszeichnet, ist hier hingegen keine Spur. Auch wenn Roehler einen Ritt quer durch alle Genres macht, verliert er doch nie sein Ziel aus dem Auge.
Doch nicht alles ist wie früher. „Lulu und Jimi“ markiert einen Bruch innerhalb des Schaffens von Roehler. Bisher stand immer der Körper, die Kreatur Mensch, im Mittelpunkt seines filmischen Werks. Angefangen mit dem Gewaltakt des „Gentelman“ über „Die Unberührbare“, Der alte Affe Angst, die Geschichte um Agnes und seine Brüder bis hin zu Elementarteilchen. Alle diese Filme stehen radikal im Zeichen des Körpers. Alles, was darüber hinausweist, findet nur als latente Konnotation am Rande Platz, als Sehnsucht. In „Lulu und Jimi“ schlägt das Extrem in die andere Richtung aus. Wo bis jetzt der Sex seine Vorherrschaft beanspruchte, erscheint nun die Liebe. Lulu und Jimi sind von Anfang an füreinander bestimmt. Daran besteht nie ernsthaft Zweifel. Einzig die konservative Gesellschaft, verkörpert vor allem durch die pathologisch auffällige Familie von Lulu, steht ihrem Glück entgegen.
Als wahrer Geniestreich muss in diesem Zusammenhang die Inszenierungsstrategie von Oskar Roehler gewertet werde: Denn Lulu und Jimi sind nicht Romeo und Julia. Hier wird nicht eine Utopie der wahren Liebe zelebriert. Alles ist gebrochen durch die Situierung der Handlung in den goldenen 50er Jahren. Die Liebe, der hier gehuldigt wird, ist eine Liebe voller Kitsch - gesehen durch die Brille der Kultur der Fifties. Es ist eine Liebe, die in den Liedern des Rock’n’Roll besungen wird. Der Effekt, den Roehler dadurch erzielt, ist in erster Linie die Erzeugung einer gewissen Distanz, die alles im Glanz einer heiteren Leichtigkeit erscheinen lässt. Paradoxerweise gewinnt die Geschichte von der Liebe nur dadurch an Glaubwürdigkeit, dass sie nämlich ganz explizit als Fiktion markiert ist.
Die ganze Bandbreite der Affekte vom Klamauk bis hin zur wahren Tragik, die in „Lulu und Jimi“ abgehandelt werden, spiegelt sich in der Besetzung bis in die kleinste Nebenrolle wieder. Betritt Bastian Pastewka alias Ernst (Neues vom Wixxer, Reine Formsache) die Szene, heißt es Bahn frei für Kalauer und subtiles Augenzwinkern. Lulu, die Mischung aus Wedekinds Femme Fatal und purer Unschuld, wird perfekt von der Französin Jennifer Decker (Flyboys) verkörpert. Sie findet ihren Gegenpart in dem souveränen aber empathischen Ray Fearon („The Chef’s Letter“). Aber auch Urgesteine der Theater- und Filmgeschichte wie Katrin Sass (Good Bye, Lenin!), Rolf Zacher („Männer wie wir“), Hans-Michael Rehberg und Udo Kier (Armageddon, Lola) tragen einen wesentlichen Beitrag zum Panoptikum der Gefühle bei. „Lulu und Jimi“ meistert damit den unglaublichen Grat zwischen Liebesdrama, Mystery-Thriller und Komödie.