Einer der buntesten und wildesten Auswüchse des europäischen Genre-Kinos der 60er und 70er war zweifelsohne der sogenannte Giallo – jene italienische Untergattung des Kriminalfilms, deren meist simpel gestrickte Whodunnit-Handlungen mit gestalterischer Experimentierfreude, teils verklärter, teils offener Misogynie und einem Höchstmaß an sexualisierter Gewalt umgesetzt wurden. Publikumslieblinge waren hundsgemeine Streifen wie „Die Farbe des Todes", „Blutige Seide" oder „Der kalte Hauch des Todes" nie und auch in Deutschland standen viele Giallo-Streifen schon sehr früh auf den schwarzen Listen der Jugendschützer. Film-Fans und -Wissenschaftler, die in Anbetracht der Kunstblut-Sturzbäche nicht sofort das Weite suchten, debattieren jedoch bis heute über die Themen des Giallo-Genres – vom bildgewaltigen, katholisch verbrämten Kampf der Geschlechter und der Urangst des Mannes vor dem Körper der Frau. Die französisch-belgischen Newcomer Hélène Cattet und Bruno Forzani haben dem Genre mit ihrem Horror-Autorenfilm „Amer" nun ein in Form und Inhalt erlesenes und zugleich kluges Denkmal gesetzt.
„Amer" zeigt drei Episoden aus dem Leben der Protagonistin: Nach dem Tod ihres Großvaters besucht die kindliche Ana (Cassandra Forêt) den Landsitz ihrer Familie. In den unheimlichen Fluren des bedrohlichen Herrenhauses fühlt sie sich bald von unheimlichen Gestalten verfolgt. Diese erste Begegnung mit ihren Urängsten wird nicht die letzte in ihrem Leben bleiben. Jahre später: In Anas (Charlotte Eugène-Guibbaud) Jugend trifft ihre seltsame Lust an der Angst auf ihre erwachende Sexualität – eine Kombination, die zumindest in ihrer Phantasie äußerst schräge Blüten treibt. In der dritten und längsten Episode stellt sich die erwachsene Ana (Marie Bos) im Haus ihrer Großmutter den Geistern ihres Lebens, die inzwischen erschreckend reale Formen angenommen haben...
Mit den transgressiven Horror-Schockern „Martyrs", „Calvaire" und „Inside" im Hinterkopf ahnt man Schlimmes, wenn von einem neuen Genre-Beitrag aus der Grande Nation (bzw. Belgien) die Rede ist. Wird die Belastbarkeit des Publikums hier einmal mehr mit Tabubrüchen auf die Probe gestellt? Mitnichten. „Amer" ist bildgewaltig – es sind jedoch nicht etwa Aufnahmen entstellter Körper, die hier im Gedächtnis bleiben, sondern die eigenwillig-kunstvolle Bildsprache, die keinen Exzess nötig hat. Cattet und Forzani überzeugen mit einem durchdachten Verzicht auf billige Schocks und plumpen Splatter. Vielmehr ist der Film - seinem Titel zum Trotz - eine Erzählung über Schuld, Scham und Schande.
Hier werden die Tiefen einer gepeinigten Seele ergründet – da überrascht es dann auch kaum, dass „Amer" mit einer Handlungswendung aufgelöst wird, die zumindest Psychothriller-Fans von weitem kommen sehen werden. Mit teuflischer Präzision ziehen Cattet und Forzani ihre Kreise über den Themenkomplexen des Genres und beschreiben das spannungsreiche Verhältnis zwischen Lust und Tod und den Schatten des Verlangens, der sich irgendwann über die kindliche Unschuld legt. Nebenbei stimulieren sie den Voyeurismus ihres Publikums, etwa mit zahlreichen Augen-Nahaufnahmen, mit denen sinnliches Erleben immer wieder betont wird.
Auch das tolle Sounddesign und die expressive Farbdramaturgie verdeutlichen, dass es bei „Amer" weniger um einen handelsüblichen Giallo-Thriller, sondern um eine Versuchsanordnung und um ein Spiel mit den Motiven des Genres handelt. Dabei verkommt der Film nie zum Referenzfilm für Eingeweihte. Mit großem Selbstbewusstsein wird zwar Giallo-Meistern wie Dario Argento, Mario Bava oder Sergio Martino Tribut gezollt und sich nebenbei noch ehrfürchtig vor Brian De Palma und Roman Polanskis „Ekel" verbeugt. Doch gleichzeitig wahren die Regie-Partner eine sehr eigene Herangehensweise und eine spürbare Emanzipation vor ihren Ikonen. Ob man sich nun an den psychologischen und filmhistorischen Vieldeutigkeiten berauscht, oder sich einfach nur von der Atmosphäre ergreifen lässt – spannend ist „Amer" in jedem Fall.
Fazit: Mit ihrem Debüt ist dem Regiegespann Cattet / Forzani ein cleverer und verspielter Horrorfilm gelungen, der alle Giallo-Afficionados und –Einsteiger gleichermaßen begeistern dürfte – „Amer" ist eine wahre Genre-Perle.