Nicht nur das Genre des Heimatfilms hat unter Filmliebhaber in Deutschland einen ziemlich schlechten Leumund. Auch das Wort selbst scheint schon durch Werke wie „Grün ist die Heide" und „Der Förster vom Silberwald" in Misskredit gebracht worden zu sein. Dabei beschreibt es eigentlich nur Filme, die fest in einer bestimmten, meist eher ländlichen Region verwurzelt sind, die so nur in dieser einen Landschaft denkbar sind. Insofern gibt es neben den verrufenen deutschen und österreichischen, auch zahllose amerikanische, englische und französische Heimatfilme. Nur werden sie meist nicht so bezeichnet. Einer der Filmemacher, der diesem bei uns missverstandenen Genre mittlerweile seit Jahrzehnten immer wieder neue Facetten abgewinnt, ist der Franzose Jean Becker („Ein mörderischer Sommer", „Ein Sommer auf dem Lande", „Dialog mit meinem Gärtner"). Auch das tragikomische Kinomärchen „Das Labyrinth der Wörter", die neueste Arbeit des mittlerweile schon 77-jährigen Regisseurs, ist wieder eine rückhaltlose und dabei absolut bezaubernde Liebeserklärung an den von überaus malerischem Sonnenlicht durchfluteten Süden Frankreichs und seine oft extrem eigensinnigen Menschen.
Der massige, von seinen meisten Mitmenschen immer wieder belächelte Germain (Gérard Depardieu, „1492 - Die Eroberung des Paradieses") hat eigentlich immer nur in den Tag hinein gelebt. Mittlerweile ist er um die 50 und schlägt sich immer noch als Gelegenheitsarbeiter auf dem Bau wie mit dem Verkauf von selbst angebautem Gemüse durch. Lesen hat er nie wirklich gelernt. Schließlich haben ihm seine Mutter und seine Lehrer von Kindheit an gesagt, dass er dafür zu dumm sei. In Wahrheit ist dieser gutmütige Bär von einem Mann aber längst nicht so einfältig, wie alle glauben. Nur hat bisher niemand sein Potential erkannt. Doch das ändert sich, als er eines Mittags im Park die 95-jährige Margueritte (Gisèle Casadesus, „Die Eleganz der Madame Michel") kennenlernt. Die ehemalige Wissenschaftlerin, deren Vater es nicht so genau mit der Rechtschreibung nahm (Margueritte mit zwei „t"), unterhält sich nicht nur mit Germain. Sie beginnt auch, ihm aus Albert Camus' „Die Pest" vorzulesen, und schon ist es um ihn geschehen. Sofort hat er die Bilder des Romans im Kopf. So entwickelt sich eine zärtliche Liebe zu den Worten und zu der so zerbrechlichen wie charismatischen alten Dame, die Germains Welt in ein neues Licht taucht.
Etwas Märchenhaftes flirrte schon immer durch Jean Beckers Filme. Doch noch nie hat sich dieses magische Leuchten und Flimmern derart konkret manifestiert wie nun in dieser Verfilmung des gleichnamigen Romans von Marie-Sabine Roger. „Es war einmal...", so könnte diese doppelte, in Wahrheit eher schon vierfache Liebesgeschichte tatsächlich anfangen. Margueritte wäre in diesem Märchen zugleich die Prinzessin und die gute Fee, die den Frosch Germain von dem bösen Zauber befreit, der seit seiner Geburt über ihm liegt. Die Liebe zu ihr verwandelt nebenbei dann auch seine Liebe zu der etwa 30-jährigen Busfahrerin Annette (Sophie Guillemin, „Wahnsinnig verliebt"). Aus einer eher unverfänglichen, das Körperliche betonenden Affäre wird durch den Zauber der Worte und die Kraft der Literatur eine tiefe Beziehung, der „Das Labyrinth der Wörter" eine seiner zauberhaftesten Szenen verdankt: Germain und Annette liegen zusammen im Bett, und während er ihr stockend aus einem Roman vorliest, schmiegt sie sich ganz nah an ihn an und gibt ihm damit die Kraft, sich selbst und seine Vergangenheit zu überwinden.
Aber trotz dieses märchenhaften Grundtons und des milden provenzalischen Lichts, in das große Teile des Films getaucht sind, bleibt Jean Becker ein ungeheuer genauer Beobachter und Chronist menschlicher Schwächen. Wieder und wieder scheinen eine geradezu verstörende Härte und Grausamkeit durch, die eben auch Teil aller menschlichen Wege und Beziehungen sind. Für seine Mutter war Germain, dieses Produkt einer Nacht schaler Leidenschaft, immer nur „das da". Sie hat ihm nie gezeigt, dass sie ihn liebt, im Gegenteil: Meist ist sie ihm nur mit Verachtung begegnet, die er dann über sich ergehen lassen hat. Aber trotzdem ist sie keineswegs die Hexe in diesem überaus realen Märchen. Erst am Ende werden Germain und auch der Zuschauer begreifen, dass dieses Mutter-Sohn-Verhältnis weitaus komplexer war, als der erste Blick suggeriert. Ähnliches gilt auch für Germains Freunde in dem kleinen Bistro, das er immer wieder aufsucht. Alle, die dort Tag für Tag herumhängen, ihren Wein trinken und über alles mögliche tratschen, scheinen sich hinter dem Rücken des gutmütigen Verlierers über ihn lustig zu machen. In ihren Worten schwingen eine Menge Gehässigkeit und auch eine gehörige Portion Spott mit, das weiß Germain selbst nur zu genau. Er lässt es sich zwar nicht anmerken, aber nicht selten treffen ihn die Bemerkungen der Anderen tief. Das alles hat mit Freundschaft eigentlich nichts zu tun, und doch gibt es da ein Band, das stärker ist als alle Verletzungen.
Die Rolle des naiven, sich etwas tapsig bewegenden Hilfsarbeiters mit blauer Latzhose und kariertem Hemd passt perfekt ins Spätwerk Gérard Depardieus. Schon in „Mammuth" und in „Small World" hat er Figuren gespielt, die den Anschluss an die moderne Welt verloren haben, die zurückgeblieben sind und gerade deswegen auf die Sympathien des Publikums bauen. Doch letztlich verbindet Germain kaum etwas mit diesen anderen Charakteren. Dank Jean Beckers grandioser Schauspielerführung hat Depardieu sämtliche Manierismen abgelegt. So ist ein ganz und gar unsentimentales Porträt eines einfachen Mannes entstanden, der früh lernen musste, dass es manchmal das Beste ist, die Gemeinheiten der Menschen einfach zu ignorieren. In dem Moment, in dem Germain die Literatur entdeckt, bricht sich in ihm etwas Bahn, das immer schon da war. Er ist auf seine Art auch ein Literat und Poet, nur ist seine Sprache und Poesie die der südfranzösischen Provinz – und die kann keiner besser im Kino einfangen als Jean Becker.