„Richard III“ ist in der Reihe der Königsdramen Shakespeares das letzte, das sich mit dem sogenannten Rosenkrieg, dem englischen Bürgerkrieg zwischen den Häusern Lancaster und York, beschäftigt. Angesichts der Tatsache, dass Königin Elisabeth I, unter deren Herrschaft Shakespeare das Drama verfasste, Enkelin des über Richard III siegreichen Heinrich VII war, wundert es einen nicht, dass die Figur des Richard Gloucester (Ian McKellen) in Shakespeares Drama in keinem besonders guten Licht erscheint. Dieser historischen Ungenauigkeit verdankt die Weltliteratur jedoch einen ihrer markantesten Bösewichte.
In Richard Loncraines „Richard III“ wird dieser Bösewicht noch bevor die erste Shakespearesche Dialogzeile fällt wuchtig und kraftvoll, mit erbarmungsloser zielstrebiger Gewalt über seine Gegner hereinbrechend, eingeführt. Als Anführer der Truppen seines Bruders Edward von York (John Wood), dem er als Edward IV auf den Thron verholfen hat, kehrt er danach siegreich heim und verkündet vor versammelter Festgesellschaft in seinem berühmten Eröffnungsmonolog den Anbruch friedlicher Zeiten, nur um sogleich in der unmittelbaren Fortsetzung des Monologs dem Zuschauer seine wahren Absichten zu enthüllen: Er selbst will König werden und zu diesem Zwecke zunächst seinen Bruder George (Nigel Hawthorne) und dann König Edward mittels ausgeklügelter Intrigen aus dem Weg räumen. Doch nicht nur die Leichen seiner beiden Brüder säumen Richard Gloucesters Weg zur Macht...
Ian McKellen und Richard Loncraine versetzen das Drama, das bei Shakespeare im 15. Jahrhundert spielt, in ein fiktives faschistoides englisches 30er-Jahre-Setting. Dies trägt entscheidend zum Unterhaltungs- und Schauwert des Films bei. Nicht umsonst war dieser 1996 in den beiden Kategorien „Best Art Direction - Set Decoration“ und „Best Costume Design“ für einen Oscar nominiert. Der Schauwert ist dabei aber niemals reiner Selbstzweck, denn von der feiernden an den Glanz der „Goldenen Zwanziger“ erinnernden königlichen Festgesellschaft zu Beginn des Films, über die reichsparteitagsmäßige Ausrufung Richards zum König, bis zum die Entscheidung herbeiführenden Einsatz der Luftwaffe Lord Stanleys fügt sich das Setting auf originelle Weise in die Inszenierung der Vorlage. Darüberhinaus ist die Photographie des Films durch Peter Biziou (Die Truman Show) äußerst gut gelungen. Das Set und einige Kameraeinstellungen erinnern bisweilen an Terry Gilliams Brazil und unterstreichen die Atmosphäre eines (sich allmählich einschleichenden) totalitären Systems. Erwähnt sei nicht zuletzt der Soundtrack von Trevor Jones (Thirteen Days, From Hell), der mit zum 30er-Jahre-Ambiente beiträgt, und Al Jolsons überdrehtes „I’m sitting on top of the World“, das dem Finale des Films, dem (so viel sei verraten) Zitat eines Gangsterfilm-Klassikers, eine zugleich komische und bizarr unheimliche Note verleiht.
Bei Richard Gloucester handelt es sich sicherlich nicht um Shakespeares psychologisch tiefsten Charakter. Richard ist der Prototyp eines Bösewichts schlechthin. Er ist ein ruchloser Schurke, der mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln und Fähigkeiten zur Macht strebt, ohne mit dieser dann etwas Bestimmtes bewirken zu wollen, sondern nur um der Macht willen selbst. Ian McKellen (später einem breiten Publikum bekannt geworden als Gandalf in der „Herr der Ringe“-Trilogie) verkörpert diesen mit einer gehörigen Portion schwarzem
Humor ausgestatten Schurken, dessen physische Deformierung seine moralische widerspiegelt, in brillanter Weise. Es ist eine wahre Augenweide wie er sich hier heuchlerisch schmeichelnd, den unwissenden Unschuldigen spielend oder sich über die vermeintliche Niedertracht anderer entrüstend, dort seine wahren Absichten offenbarend, seine Schergen skrupellos mit Morden beauftragend oder sich diebisch über gelungene Ränkespiele freuend, humpelnd und doch behände durch den Film bewegt. Ferner gelingt es McKellen in der einzigen Szene, die zeigt, dass Richard ein Gewissen hat, als er schweißgebadet aus einem Albtraum aufwacht, der Figur eine zusätzliche Facette zu verleihen, nämlich die eines im Grunde bemitleidenswerten von blinder Machtgier getriebenen, in Blut watenden Mannes, der von allen gefürchtet und von niemandem geliebt wird, der sich selbst hasst und dem niemand eine Träne nachweint, wenn er stirbt. Man erinnert sich dann unwillkürlich an manchen Moment, in dem Richard den Eindruck erweckte, als wäre ihm seine Grausamkeit selbst unheimlich. Es vermittelt sich tatsächlich das Bild eines Mannes, der sein „feiges“ Gewissen mehr fürchtet als 1000 Gegner aus Fleisch und Blut, die sich ihm auf seinem Weg zur Macht und deren Erhalt entgegenstellen.
„Richard III“ bezieht seinen Reiz zu einem Gutteil daraus, dass der Zuschauer quasi zum Komplizen Richards wird, indem ihn der Schurke ins Vertrauen zieht und in seine Pläne einweiht. Dies geschieht hier in einer amüsanten Bandbreite: Einmal spricht Richard (meist wenn er alleine ist) direkt in die Kamera, ein anderes mal ergibt sich der Blick in dieselbige begleitet von einer entsprechenden Bemerkung eher dezent beiläufig im Laufe eines Dialogs und das nächste Mal geschieht es einfach durch eine Geste, die auf die Anwesenden einen anderen Eindruck macht als auf den eingeweihten Zuschauer. Dem Betrachter vermittelt sich so auch die Erkenntnis, dass Richard dann am gefährlichsten ist, wenn er lächelt, wenn er schmeichelt, wenn er Unschuld, Mitleid und Demut heuchelt. Obwohl die Inszenierung einige historische Anknüpfungspunkte bietet (beispielsweise haben Teile der englischen Aristokratie mit Nazi-Deutschland sympathisiert), erschafft sie eine ahistorische fiktive Welt, was die Universalität der Shakespeareschen Vorlage unterstreicht: Zu allen Zeiten, bis heute, haben machthungrige Menschen ihre wahren Absichten hinter einer Fassade aus edlen Motiven und schmeichelnden schönen Worten zu verbergen versucht. Freilich ist es nicht allen auf so exemplarisch skrupellose Weise gelungen wie dem Komplotte schmiedenden „Tricky Dicky“ Richard. Dass der Zuschauer dem sich dabei entspinnenden intrigenreichen Plot stets folgen kann, ist auch dem Drehbuch zu verdanken, das im Sinne einer straffen Inszenierung die äußerst umfangreiche Vorlage, die zahlreiche Bezüge zu den vorangehenden Königsdramen enthält, für den darin nicht bewanderten Betrachter herunter zu brechen vermag, aber unter Beibehaltung der Sprache Shakespeares den wesentlichen Nebenfiguren, die größtenteils von Mimen der ersten Garde verkörpert werden, ausreichend Platz einräumt. Denn, bei aller Brillanz McKellens, was wäre der beste Bösewicht ohne Akteure, mit denen bzw. gegen die er sich verschwören könnte?
Der naiv unschuldige George (Nigel Hawthorne, „King George“), bezeichnenderweise dargestellt als Fotograph, der alles abbildet, aber nichts begreift; der kränkelnde König Edward (John Wood, Chocolat), dessen Herrschaft von Anfang an auf tönernen Füßen steht; seine leidgeprüfte Frau Elizabeth (Annette Bening, American Beauty, Bugsy) und ihr Bruder Lord Rivers (Robert Downey Jr, Short Cuts), die durch die Andeutung einer amerikanischen Herkunft als soziale Emporkömmlinge dargestellt sind; der Polit-Gangster Buckingham (Jim Broadbent, Moulin Rouge, Gangs Of New York), Richards Steigbügelhalter zur Macht, der dann ob dessen maßloser Skrupellosigkeit, letztendlich doch kalte Füße bekommt; der willfährige Scherge Tyrell (Adrian Dunbar), der dort weiter macht, wo Buckingham zurückschreckte; die wankelmütige Lady Anne (Kristin Scott Thomas, Der englische Patient, Man To Man), die von Selbstvorwürfen geplagt der Drogensucht verfällt und durch deren ausdruckslosen Blick der Zuschauer Richards Krönung als eine Art Horror-Trip erlebt; Richards junger Opponent Richmond (Dominic West, Mona Lisas Lächeln), der im letzten Akt seinen großen Auftritt hat, und schließlich die Herzogin von York (Maggie Smith, „Harry Potter“), die quasi als mahnendes Gewissen gegen die Ruchlosigkeit des Schurken auftritt, deren harte Worte, die sie ihrem Sohn Richard an den Kopf wirft, beim Betrachter jedoch leise Zweifel aufkommen lassen, ob dessen Charakter nun der Grund oder die Folge der Haltung seiner Mutter ist, was eine leichte Brechung des Schwarz-Weiß-Schemas von Gut und Böse bewirkt.
Wer eine klassische Adaption des Dramas bevorzugt, für den mag Laurence Oliviers Verfilmung von „Richard III“ erste Wahl bleiben. Richard Loncraine aber ist mit seiner Adaption eine beeindruckende zeitgemäße und doch zeitlose Umsetzung der Shakespeareschen Vorlage gelungen, die einerseits in ihrem Setting, ihrem stimmigen Soundtrack und ob der gebotenen Schauspielleistung außerordentlich unterhaltsam ist, und es andererseits vermag, die faszinierende Figur Richard Gloucesters mit ihrem skrupellosen alles (einschließlich sich selbst) verschlingenden Willen zur Macht eindrucksvoll auf die Leinwand zu bringen. Nicht nur für Shakespeare-Freunde absolut empfehlenswert!